Was für ein bizarrer Anblick: Eine Schönheitskönigin mit blutrot geschminkten Lippen im paillettenbestickten Abendkleid und in einer waldgrünen Jacke skandiert entschlossen Parolen in die Kamera: «Cuando la dictadura es un hecho, la revolución es un derecho» – heisst übersetzt: Wenn die Diktatur eine Tatsache ist, dann ist die Revolution ein Recht. Mit diesem Video grüsst die kolumbianische Theatergruppe Mapa Teatro und zeigt, wie sie sich mit allmählich vergessenen Guerilla-Uniformen im satten Dickicht des fiktiven Dschungels von einer Revolution verabschiedet. Von einer, die zu Beginn so viel wollte, letztlich dennoch scheiterte.
Eine Spur Leichtigkeit für das dunkle Kapitel
Der Inszenierung «La Despedida» (der Abschied) auf der Werft-Bühne des Zürcher Theater Spektakels liegt als dokumentarischer Anker die Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen der kolumbianischen Regierung und der linksgerichteten Guerillagruppe Farc zugrunde. Damit hätte der über fünf Jahrzehnte andauernde bewaffnete Kampf im südamerikanischen Land vorerst beendet werden sollen.
Der historische Moment ist nun fünf Jahre her, und mit dem Stück «La Despedida» erinnert die Gruppe auf eine ganz aussergewöhnliche Weise daran. Mit einem Mix aus Ethnofiktion, Archivaufnahmen, Revolutionsgesängen, Videos und skurrilem Humor vermittelt Mapa Teatro eine gewisse Leichtigkeit in diesem dunklen Kapitel Landesgeschichte. So mag das Publikum staunen, wenn zum Abschiedsfest grosse Revolutionsführer wie Marx, Lenin, Bolívar, Mao oder Guevara geladen sind.
Mit dem Stück wolle man nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden, sagt Agnes Brekke, welche die resolute Schönheitskönigin verkörpert. «Vielmehr stellt sich bei jedem historischen Ereignis die Frage, was von der Geschichte wie in Erinnerung bleiben wird», sagt die 40-jährige Künstlerin im Videointerview. Deshalb kämpft Mapa Teatro mit dem Stück gegen das Vergessen an, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
«Von wo wir herkommen, unsere Umgebung und unsere Realität prägen unsere Arbeit in vielerlei Hinsicht», sagt die kolumbianisch-britische Künstlerin. Deshalb lasse sich ihr Schaffen auch nicht kategorisieren. Das Theaterensemble rund um die Geschwister Rolf und Heidi Abderhalden widmet sich seit fast dreissig Jahren Themen der kolumbianischen Gesellschaft. Dafür recherchiert die Gruppe akribisch, geht jeweils vor Ort und taucht in die verschiedenen Perspektiven ein. Daraus entstehen kritische Projekte, die sich zwischen Tanz, Theater und Gesang bewegen.
Ein fantastisches Schiff legt an der Saffa-Insel an
So ist denn auch die zweite Inszenierung «La Balsada» (Das Floss), welche die Gruppe eigens für das Theater Spektakel konzipierte, vor allem eine musikgewichtige Performance. Begleitet von Akkordeonklängen, legt ein fantastisches Schiff an der Zürcher Saffa-Insel an. Männer mit von Masken bedeckten Gesichtern steigen in Frauenkleidern an Land und laufen, mit Peitschen ausgerüstet, umher. Dieses gleichermassen faszinierende wie irritierende Ritual erinnert an eine christliche Tradition in einer ehemals von Sklaven bevölkerten Region Kolumbiens. Das Mahnen an Traditionen und Kolonialgeschichte wird somit ein zentraler Bestandteil der Aufführung. Aber auch wie verblüffend nahe Fest und Gewalt liegen können, kommt in «La Balsada» zum Ausdruck. Besonders nachdenklich stimmt, dass diese ambivalente Nähe in den vergangenen Wochen traurige Aktualität erlangte. Landesweit protestieren vor allem Junge auf den Strassen Kolumbiens für soziale Gerechtigkeit. Was tagsüber wie eine Art Karneval wirkt, kann sich nachts jederzeit in einen Kampf verwandeln – die Grenzen zwischen Fest und Gewalt verschmelzen.
Schwerpunkt Postkolonialismus
An der diesjährigen Ausgabe des Theater Spektakels befassen sich fast alle der 30 internationalen Kunstprojekte in der einen oder anderen Form mit Postkolonialismus und setzen sich mit herrschenden Machtstrukturen, globaler Gerechtigkeit von Güter- und Wissensverteilung oder dem Umgang mit den Ressourcen auseinander. So auch die Inszenierung «Mailles» der ruandisch-britischen Dorothée Munyaneza. Sechs Frauen erzählen ihre Biografie, geprägt von Gewalt, Ausschluss und Unterdrückung. Mit Tanz, Sprache und Gesang verflechten sich die kollektiven Erzählungen zu weiblicher Stärke, die überlebt und nun aus der magischen Kraft des Widerstands heraus das Schöne ins Zentrum rückt. Auch sonst lässt es sich auf der Landiwiese in unterschiedliche Perspektiven eintauchen. Etwa, wenn man durch die Monumente schlendert, die 14 Künstler rund um die Welt für das Festival entworfen haben. Mit ihrer ganz individuellen Interpretation setzen sie sich mit der Frage nach Erinnerung, Gedenken und Repräsentation auseinander. Dabei bleibt am diesjährigen Theater Spektakel vor allem eines – Raum zum Innehalten und Zuhören.
La Despedida
Mapa Teatro
Do, 26.8.–Sa, 28.8., jeweils 20.00
Zürcher Theater Spektakel: Werft
La Balsada
Mapa Teatro
Fr, 20.8.–Mo, 23.8., Videoinstallation: jeweils 19.00–21.00, Performance: jeweils 21.30
Zürcher Theater Spektakel: Saffa-Insel
Mailles
Dorotée Munyaneza
Do, 19.8.–Sa, 21.8., jeweils 20.00Zürcher Theater Spektakel: Nord
Zürcher Theater Spektakel
Do, 19.8.–So, 5.9.
An der Abendkasse gibt es für alle Vorstellungen Restkarten, auch für ausverkaufte.
www.theaterspektakel.ch