Reglos und mit eingesunkenem Oberkörper sitzt Iwan Iljitsch auf einem Stuhl im hinteren Bühnenbereich. Vorne spricht seine Frau Praskowja Fjodorowna, das zerfurchte Schaumstoffgesicht von Bitterkeit verzerrt. «Ich bin ein Möbel!», ruft sie und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. «Er sieht mich nicht, er hört mich nicht. Drei Kinder habe ich verloren, und er hat es nicht einmal gemerkt.»
Iwan Iljitsch und seine Frau sind übergrosse Puppen, die hier auf der Probebühne im Zürcher Theater Stadelhofen von Delia Dahinden und Anna Karger geführt werden. Praskowja sitzt so auf Kargers Schoss, dass die Füsse ihrer Spielerin unter ihrem schwarzen Kleid hervorlugen, als wären es Praskowjas.
Dahinden und Karger sind Teil des Dakar-Ensembles, das seit bald zehn Jahren Puppentheater für Erwachsene macht, oft spielen sie Weltliteratur. «Der Tod des Iwan Iljitsch» stammt aus Leo Tolstois Feder. Dakars Version heisst «Auf Bäume klettern».
Schaumstoff sorgt für lebendiges Aussehen
Damit komplexe, grosse Emotionen mit Objekten vermittelt werden können, damit das Publikum vergisst, dass es hier mit einer Klappmaulpuppe mitfühlt, muss jede Bewegung stimmen. Deswegen hat Dakar den Regisseur Alberto García Sánchez engagiert. Der Spanier spricht auf der Probe Französisch.
«Pose la main plus doucement sur la jambe», «leg die Hand sanfter aufs Bein ab», sagt er zu Dahinden. Bei der Probe wird den Spielerinnen einiges abverlangt. Sie müssen nicht nur zwischen Deutsch und Französisch, sondern auch zwischen Menschen- und Puppenschauspiel hin und her wechseln – und die Atmosphäre mitdenken.
Denn heute wird die Musik definiert. Für diese sorgt Balts Nill, Mitgründer und Perkussionist der Band Stiller Has. Er sitzt am linken Bühnenrand, vor sich einen Plattenspieler und eine Gitarre. Immer wieder greift er in die Saiten und improvisiert, bis Gefühl und Intensität zum Rhythmus des Spiels passen.
Das dritte Dakar-Mitglied heisst Lukas Roth. Wegen anderer Projekte setzte er beim Spiel von «Auf Bäume klettern» aus, gestaltete aber die Bühne. Diese ist reduziert: Da stehen ein alter Sessel, ein Servierwagen und zwei Nachttischlampen, an die Karger einen Gämsenkopf hängt.
Die lebensgrossen Puppen fertigt Dahinden in ihrem Atelier selbst an, mittlerweile habe sie etwa 70. Die Gesichter schnitzt sie aus Schaumstoff, so entstehen Furchen, die den Figuren gleichzeitig ein lebendiges und verlebtes Aussehen geben.
Mehr als totes Arbeitsgerät
Vor Tolstoi inszenierte Dakar Texte von Ödön von Horváth, Friedrich Glauser, Adelheid Duvanel und eigene Texte. Mit «Hin ist hin» und «Mit der Zeit muss man gehen» gewann das Ensemble den Jurypreis der Heidelberger Theatertage. Bei den Dakar-Stücken, welche die Gruppe oft jahrelang international zeigt, spielen Menschen und Puppen auf der Bühne stets gleichwertig zusammen.
Karger sagt, für sie seien die Puppen denn auch mehr als totes Arbeitsgerät. «Wenn ich mir ein Stück für eine Wiederaufnahme vergegenwärtige, aktiviere ich mein Körpergedächtnis. Das erinnert sich dann aber nicht nur an meinen Körper, sondern auch an den der Figur.»
Und die besässen ein gewisses Eigenleben. Auch Regisseur Sánchez arbeitet schon lange mit Puppen, ist künstlerischer Leiter des Stuttgarter Materialtheaters. «Gutes Puppenspiel ist eine ständige Balance, man gibt der Puppe seine Energie, darf sie aber performativ nie konkurrenzieren», sagt er.
Iwan Iljitsch betrachtet jetzt einen Gämsenkopf an der Wand. «Natascha?» «Oui, Monsieur», antwortet die Dienerin, gespielt von Delia Dahinden. «Schieb mich näher ran, und bring mir Cognac und Zigarre.» «Aber Monsieur …» «Das bleibt unter uns.» Iwan wendet sich an seine Jagdtrophäe. «Ich habe dich aus dem Leben gerissen, du hast keine Ahnung, wie es ist, langsam zu sterben.»
Anna Karger, die Tolstois Original am besten kennt und daraus die Textfassung kondensiert hat, sagt: «Uns fasziniert, wie genau Tolstoi das psychologische Erleben des Sterbeprozesses darstellt. Nach einem deprimierenden Arztbesuch sitzt Iwan in der Droschke, und alle Häuser sehen für ihn traurig aus.»
Trotz dieser Qualität sind Tolstois Werke kein einfacher Theaterstoff, sie enthalten viele Figuren mit vielen Namen, es mangelt an direkter Rede. Sánchez sagt: «Man darf nicht den Fehler machen, Tolstois Roman zu spielen. Sonst ist das Buch besser.» Im Gegenteil: «Wenn man den Autor zu sehr respektiert, verrät man ihn.» Deshalb stelle er sich vor, wie Tolstoi die Geschichte erzählt hätte, wenn er kein Papier, dafür aber Puppen gehabt hätte.
Persönliche Gedanken kommen mit ins Spiel
«Die Geschichte von Iwan Iljitsch ist schwer, am Schluss bereut er, wie er sein Leben gelebt hat. Uns war wichtig, dass wir das mit Humor auffangen und das Thema auch in die Gegenwart holen», sagt Dahinden. Deshalb treten die Puppen immer mal wieder aus der Rolle und kommentieren das Geschehen.
Und auch die menschlichen Spielerinnen bringen ab und an persönliche Gedanken an. So sagt Karger kurz vor dem Ende: «Meine Grosstante war schon todkrank, harrte aber noch Wochen aus, bis ihr Sohn aus Australien heimkam.» Dahinden sagt: «Meine Mutter war das Gegenteil.
Als die Familie beim Parkplatz vom Spital ankam, ist sie gegangen.» Die Puppe von Iwan meldet sich vorfreudig zu Wort: «Jetzt kommt die Stelle, an der Iwan Iljitsch versucht, zu weinen.» Dann sackt er in sich zusammen und stirbt weiter.
Auf Bäume klettern
Premiere: Do, 5.12., 20.00
Theater Stadelhofen Zürich
Weitere Aufführungen:
Fr/Sa, 10.1./11.1., 20.15
Theater im Kornhaus Baden AG
Sa, 17.5., 20.00 Central Uster ZH