Der Lastwagenanhänger auf der Bühne sieht aus, als sei er vergessen gegangen. Nur der Blick durch die zwei Fensterchen und die Stimmen aus den Kopfhörern verraten, dass darin Menschen hausen. Dass darin gestritten und über das Leben verhandelt wird. Da sind Frau Schödler und ihr Sohn Robert, die wegen ihres dünnen Geldbeutels kaum den Pachtzins bezahlen können. Und da ist Marie, die Frau des Hauseigentümers Theophil, die seit ihrer Jugend in Robert verschossen ist. Die beiden waren einst ein Liebespaar. Nur hat sie dann leider dem Falschen das Ja-Wort gegeben. Seither versucht sie, sich aus den Stricken der Ehe frei zu strampeln, um die Liebe mit Robert wieder leben zu dürfen.
In züchtiger Bluse und zu kurz geratener Hose
In den roten Plüschsesseln im Theater Marie im aargauischen Suhr hat es sich das Team rund um Regisseur Olivier Keller und Dramaturg Patric Bachmann bequem gemacht. Ein paar Scheinwerfer sind auf den Anhänger gerichtet, ohne einen bestimmten Gegenstand in den Fokus zu rücken.
Die Schauspieler proben den dritten Akt des Stücks «Marie und Robert»: in Rock und züchtiger Bluse, Jacket und zu kurz geratener Bundfaltenhose, wie man sie Anfang des 20. Jahrhunderts getragen hatte. Der Schriftsteller Paul Haller (1882–1920), der das Epos «s Juramareili» verfasst hatte, schrieb das Drama 1917 in Aargauer Mundart. Er war Pfarrer, studierte Germanistik, begann zu schreiben und nahm sich drei Jahre darauf das Leben.
Es sei so finster, sagt Frau Schödler in diesem Moment auf der Bühne zu Marie, mit einer Stimme, die einen erschauern lässt. Beide spähen in die Ferne, man sieht ihnen an, dass sich etwas zusammenbraut, das nichts Gutes verheisst. Frau Schödler kuschelt sich fröstelnd noch tiefer in ihren Sessel und spricht vom Sterben. Doch dann glätten sich die Sorgenfalten urplötzlich auf Maries Gesicht. Sie lächelt. Und sagt, sie spüre, dass Robert heimkommen werde.
Die Bühne als Jahrmarktsbude
Immer wieder unterbricht der Regisseur das Spiel. Sagt den Schauspielern, was sie verbessern könnten. Fragt Robert, der von Andri Schenardi gespielt wird, wieso er eine bestimmte Emotion in den Vordergrund gerückt habe. Diskutiert mit Barbara Heynen, die in der Rolle der Marie zu sehen ist. Oder lacht zusammen mit Suly Röthlisberger (Frau Schödler), weil sie den Text vergessen hat. Die Schauspielerin ist dem TV-Publikum aus der Serie «Der Bestatter» bekannt.
Die Theatertruppe hat noch ein paar Wochen Zeit, bis das Stück im Stadtmuseum Aarau Premiere feiert. «Marie und Robert» wird als mobiles Theater inszeniert. «Der zur Bühne umfunktionierte Anhänger erinnert an eine Art Jahrmarktsbude», erklärt der Regisseur. Er könne überall hingefahren werden. In Planung sind Aufführungen auf Dorfplätzen oder in Hallen in der ganzen Deutschschweiz.
Die Aargauer Theatermacher, die in der freien Theaterszene der Schweiz bekannt sind, haben sich lange überlegt, wie sie dieses historische Stück inszenieren könnten. Kurz dachten sie daran, es in der Gegenwart spielen zu lassen. Dann aber kamen sie wieder davon ab. «Das Stück ist für uns vielmehr wie ein altes Foto», sagt Keller. Während man es anschaue, höre man plötzlich die Stimmen und sehe die Bewegungen der Menschen darauf.
Die Emotionen kochen hoch
Auch deshalb spielt das Stück in diesem Anhänger, auf engstem Raum. So wird das Drama zu einem Kammerspiel, das all die seelischen Nöte ins Zentrum rückt, die Menschen auf zu kleinem Raum niederdrücken. Denn ein friedliches Nebeneinander ist kaum möglich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand explodiert.
Im ersten Akt bleibt der Wagen bis auf die zwei Fensterchen verschlossen, und die Zuschauer vernehmen die Stimmen über die Kopfhörer. Im zweiten Akt wird eine Seitenlade geöffnet. In seiner Ganzheit sichtbar ist der Innenraum aber erst im dritten Akt, in dem die Zuschauer die Kopfhörer zur Seite legen und direkt in Frau Schödlers Wohnzimmer blicken können. Gemütlich sieht es aus: Auf dem Holztisch steht ein geblümter Porzellankrug mit Apfelwein, im Ofen wartet das Holz darauf, entzündet zu werden, und in der Ecke steht ein Sessel, in dem die Mutter gerne der Gegenwart davondämmert.
Und doch ist dieser Ort der Gemütlichkeit auch der Ursprung allen Unglücks. Denn der Kampf um die Liebe geht selten gut aus und dauert auch dann noch an, wenn das Glück endlich greifbar wäre. Gerechtigkeit, Gewissen, Schuld – es sind grosse Themen, die in diesem Drama verhandelt werden. Während Marie sich nehmen will, was ihr ihrer Meinung nach zusteht, ringt Robert mit sich und seinen Gedanken. Es fällt ihm schwer, den Moment zu geniessen, er bleibt in der Vergangenheit verhaftet.
Nun duftet es aus dem Foyer neben der Bühne nach angedünsteten Zwiebeln. Mittagspause. Und so, wie sich die Crew um den Tisch setzt, könnte man meinen, die Theaterleute seien ebenfalls eine Familie, die sich pünktlich zum gemeinsamen Essen versammelt. Mit dem einzigen Unterschied, dass auf der Bühne bestimmt lauter gestritten wird und mehr Blut fliesst als daneben.
Die Schau zum Stück
Eine zum Stück passende Ausstellung soll die Familien-Thematik vertiefen. Bevor das Stück beginnt, werden auf die Wände des Anhängers Bilder von Wohnzimmern projiziert. Dazu sprechen Aargauerinnen und Aargauer über den Stellenwert der Familie in der heutigen Zeit.
Infos unter: www.stadtmuseum.ch
Marie und Robert
Premiere: Di, 2.5., 20.15
Stadtmuseum Aarau
www.theatermarie.ch