«Kleinkunst», mit diesem Wort kann Nicole Knuth nicht viel anfangen. «Was heisst schon kleine Kunst?», fragt sie bei einem Treffen in Zürich. «Rein von der Handhabung her ist die Kleinkunst viel schneller als die sogenannte ‹Grosskunst›, die sehr träge sein kann – in derselben Zeit, in der dort ein Stück entsteht, hätten wir bereits drei kreiert. Mit Kleinkunst kann man viel schneller auf ein aktuelles Thema reagieren.» Ihre Bühnenpartnerin Olga Tucek ergänzt energisch: «Kleinkunst kann grosses Kino sein – mit kleinem Budget ist so vieles möglich!»
Grosses Kino sind die mittlerweile elf Stücke des Duos tatsächlich. Die Schauspielerin und Regisseurin Nicole Knuth sowie die Sängerin, Akkordeonistin und Texterin Olga Tucek stehen seit 2004 gemeinsam auf der Bühne und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet – vom Salzburger Stier bis zum Schweizer Kleinkunstpreis, den sie an der diesjährigen Künstlerbörse in Thun erhalten. In ihren Programmen mischen sie lust- und temperamentvoll Satire mit Poesie, Musik mit Erzähltheater, laute mit leisen Tönen.
In eine Schublade stecken lassen wollen sich die beiden nicht. «Darum haben wir uns gleich eine ganze Kommode gebaut», lacht Tucek. «Heimatfilmtheater» nennen die beiden ihre Kunst: Damit verweisen sie auf das filmische und theatrale Erzählen, das bei den Zuschauerinnen und Zuschauern ein Kopfkino auslöst. Und auf ihre wiederkehrenden Themen Heimat und Fremdsein, welche die beiden Zürcherinnen mit Wiener und tschechischen Wurzeln beschäftigen. In ihrem aktuel-len Programm «Heimat» singen Knuth und Tucek von sogenannten Volksverstehern, von Grenzen und «Patridiotischem».
Vom Klimawandel über Feminismus bis zur Religion verhandeln sie alles, was zum Querdenken anregt. Im Osterprogramm «Passion!» inszenieren sie etwa eine schräge Passionsspiel-Show. «Wir wollen das Publikum in unseren Stücken auf eine Slalomfahrt mitnehmen, auf der sie überrascht und durchgerüttelt werden», sagt Knuth. So kann ein Lied ganz fein und leise beginnen, die Zuschauer einlullen – und plötzlich in eine ganz andere Richtung kippen, die das Lachen im Gesicht gefrieren lässt. «Zynismus liegt uns aber trotz schwarzem Humor fern», betont Tucek. Ihre gesellschaftspolitischen Themen setzen sie nicht im klassischen Sinne des Politkabaretts um, sondern mit «Empathie und der Magie der Imagination».
Satirikerinnen mit Sprengkraft
Sollte Kleinkunst politisch sein? «Nicht unbedingt», finden beide. «In der Schweiz hat die Kleinkunst eine viel heterogenere Tradition als beispielsweise in Deutschland, wo es mit Comedy oft plakativ wird. Hier gibt es viel versponnenere Stücke ohne politisches Statement, die dennoch gesellschaftlich relevant sind», sagt Tucek, und Knuth ruft enthusiastisch dazwischen: «Kunst beflügelt die Fantasie und kann vielleicht sogar die Welt retten!»
Die beiden kommen ins Sinnieren über die Kleinkunstszene, und Tucek relativiert: «So wahnsinnig progressiv und subversiv ist die Szene nicht. In Berlin etwa tummelt sich alles, was ‹queer› ist, das ist in der hiesigen Kleinkunst fast nicht existent – das macht jedes Stadttheater besser.» Die Schweiz sei eine Nation der Lehrerinnen und Lehrer: «sozialdemokratisch eingemittet, nicht revolutionär». Und Knuth hält fest: «Nicht zu laut, nicht zu grell, nicht zu bunt soll es sein, dafür leistet man sich in der Kunst ein paar farbige Vögel.»
Die beiden sind aber überzeugt, dass sich die Kleinkunst, die sich in einer «wahnsinnigen Komfortzone» befinde, in den nächsten Jahren progressiver zeige. «Die Welt verändert sich, Europa steht vor Umwälzungen, da muss man auch in der Kunst Grundsatzfragen stellen, eine Haltung und einen Inhalt haben», sagt Tucek. Die beiden tragen mit ihrer musikalischen Satire jedenfalls zu einer Kleinkunst mit Sprengkraft bei.
Kleinkunstszene Schweiz
In der Schweiz gibt es über 700 Künstlerinnen und Künstler, die zur Kleinkunst gerechnet werden, und über 300 Kleintheater, wie die Mitgliederzahlen im «Verband t. Theaterschaffende Schweiz» belegen. Die Zuschauerzahlen bewegen sich zwischen 1 und 3 Millionen – je nachdem, welche Produktionen zur Kleinkunst gezählt werden. Neuere Zahlen liegen nicht vor, aber die Kleinkunstszene sorgte auch in den letzten Jahren für Publikumsströme. Ein weiterer wichtiger Schritt für die Kleinkunst-Förderung: Seit 2015 ist der Schweizer Kleinkunstpreis Teil der Schweizer Theaterpreise, die vom Bundesamt für Kultur finanziert und verliehen werden.
5 Fragen an Kleinkunst-Expertin Barbara Anderhub
«Die Schweizer fallen durch mutigere Produktionen auf»
Barbara Anderhub kennt die Kleinkunstszene aus unterschiedlicher Perspektive: als Satire-Redaktorin bei Radio SRF 1, als Managerin des Duos Ohne Rolf und als ehemalige Leiterin des Kleintheaters Luzern.
kulturtipp: Vom Kabarett und Erzähltheater über Zauberei, Pantomime bis zu Spoken Word. Die Bandbreite bei der Kleinkunst ist riesig. Wie definieren Sie Kleinkunst?
Barbara Anderhub: In der Kleinkunst ist sehr vieles möglich. Beim Begriff geht es weniger um ein Genre, sondern vielmehr um den kleinen Raum und die Intimität. Und die Produktionsbedingungen sind einfacher als in grösseren Häusern oder in der freien Szene. Die Kleinkunst ist auch ideal für Bühnen-Einsteiger – in dieser Szene gibt es darum grössere qualitative Unterschiede als beispielsweise auf Opern-Bühnen.
Die Kleinkunstdichte ist in der Schweiz sehr hoch. Was zeichnet die hiesige Kleinkunst im Vergleich zu anderen Ländern aus?
In der Schweiz gibt es eine grössere Genre-Vielfalt als etwa in Deutschland, wo es viel mehr Stand-up-Comedy gibt. Die Schweizer fallen durch schrägere, mutigere, experimentellere Produktionen auf.
Aber warum ist gerade in der Schweiz die Kleinkunst so gross und hat eine so lange Tradition?
Die Szene ist in den 50ern und 60ern in den Kellertheatern als Alternative zu etablierten Theatern entstanden. Inzwischen gibt es so viele Kleintheater, die meisten davon sind im Gegensatz zu anderen Ländern ehrenamtlich organisiert. Ich staune immer wieder, wie wir mit dem Duo Ohne Rolf stets neue Auftrittsorte entdecken. Die Veranstalter haben aber Mühe, Nachwuchs zu finden. Wenn sich niemand mehr engagiert und ein Programm auf die Beine stellt, hat das Auswirkungen auf die Auftrittsmöglichkeiten für Künstler.
Ist auf den Kleinkunst-Bühnen ein subversiveres Programm als im Stadttheater zu sehen?
Das würde ich so nicht sagen. Aber die Kleinkünstler sind agiler, können schneller auf Aktuelles reagieren. Im Kabarettbereich können sie ihr Programm tagesaktuell anpassen. Beispiele dafür sind Knuth und Tucek oder auch Bänz Friedli, der in seinen Programmen immer sehr schnell auf aktuelle politische Ereignisse Bezug nimmt. Politisches Kabarett fristet in der Schweiz allerdings eher ein Schattendasein.
Welche aktuellen Entwicklungen lassen sich in der Kleinkunstszene ausmachen?
Besonders die Poetry-Slam-Szene hat in den letzten zehn Jahren an grossem Einfluss gewonnen. Das sieht man etwa an den Salzburger-Stier-Preisträgern. Mit Hazel Brugger, Patti Basler oder Christoph Simon wurden Kleinkünstler ausgezeichnet, die aus der Slam-Szene kommen. Auch Dominik Muheim, Lisa Christ oder Simon Chen wurden durch Poetry Slam geschult und stehen nun mit Soloprogrammen auf der Bühne. Slammer sind kritikfähig, sprachbegabt und gewohnt, auf Bühnen zu performen. Und sie bringen ein jüngeres Publikum in die Kleintheater, sorgen für eine gute Durchmischung, wo sonst oft nur ältere Semester zu sehen sind.
Knuth und Tucek
Di, 16.4., Theater Ticino
Wädenswil ZH (mit «Passion!»)
Tourneedaten mit «Heimat»:
www.knuthundtucek.ch
60. Schweizer Künstlerbörse
Do, 11.4.–So, 14.4., Kultur- und Kongresszentrum Thun
Programm: www.kuenstlerboerse.ch