Applaus, Applaus, die Arena tobt. Von einer Tribüne aus feuert eine mit Schals bekleidete Fangruppe fünf Musiker an, die in Sportoutfits zu einem immer schneller tickenden Metronom auf ihre Instrumente einhämmern. Dabei balancieren sie auf einem Schwebebalken, machen Rumpfbeugen oder rennen schwitzend auf dem Laufband, während anderswo im Getümmel ein männlicher Cheerleader um die eigene Achse wirbelt und eine dreibeinige Schiedsrichterin in ihr Mikrofon murmelt.
«One Song» heisst diese Hochleistungsperformance der belgischen Multimediakünstlerin Miet Warlop. Ein Opus magnum zweifellos, denn so ausgepumpt, wie die Darsteller gegen Schluss zu Boden sinken, so frenetisch wird das Stück seit seiner Premiere am Avignon Festival 2022 weltweit gefeiert. Ob die Künstlerin mit solchen Begeisterungsstürmen (die «New York Times» nannte es «‹Hunger Games› für Theater-Aficionados») gerechnet hat?
Zoom-Anruf nach Belgien. Miet Warlop sitzt vor einem Backsteinhäuschen, raucht und nickt lächelnd in die Kamera: «Diese Anerkennung hat mich wirklich umgehauen – nicht nur auf künstlerischer, sondern auch auf menschlicher Ebene. Ich wollte ja mit diesem Stück in erster Linie der Trauer einen Ort und eine Gestalt geben.» Trauer?
«Verlust schweisst uns Menschen zusammen»
Tatsächlich ist «One Song» als Antwort auf den Suizid von Warlops Bruder vor 20 Jahren entstanden. «Verlust schweisst uns Menschen zusammen, vielleicht mehr noch als Liebe», sagt die 45-Jährige. Damals hätten ihre Freunde sie gerettet, indem sie ihr halfen, das Bühnenrequiem «Sportband» zu realisieren. «One Song», eine Auftragsarbeit aus Milo Raus «Histoire(s) du Théâtre»-Reihe der NTGent-Bühne, geht nun weit darüber hinaus.
Es ist ein Stück über das Selbstverständnis von Theater, ein Gleichnis für das menschliche Anrennen gegen die tickende Uhr. Und es ist, wenn man so will, ein ins Absurde reichender Exorzismus. Oder wie es Miet Warlop formuliert: «Wenn wir auf der Bühne ‹Schmerz, Schmerz!› schreien würden, würde dies das Publikum auf Distanz halten. Ich wollte das Gegenteil davon, also alle mit einbeziehen». Alle heisst in diesem Fall auch: zwölf Darstellerinnen und Darsteller, die sich während einer Stunde maximal verausgaben.
«Stimmt nicht ganz», relativiert Warlop, «es geht mir nicht um das ultimative Leben-oder-TodFeeling auf der Bühne, sondern darum, von innen heraus zu arbeiten, das Persönliche herauszuschälen.» Natürlich sei das Stück eine physische Herausforderung. Allerdings hätten sie «One Song» jetzt fast einen Monat lang nicht mehr aufgeführt. «Das könnte etwas schwierig werden für die Aufführung am Zürcher Theater Spektakel. Ich hoffe jedoch, dass alle gut trainiert haben in den Ferien», meint Miet Warlop lachend.
Ein achtminütiges Energiebonbon
Bleibt die Frage: Warum spielt die Künstlerin, die in fast jedem ihrer Stücke auftritt, diesmal keine Rolle? «Ich habe es früher etwas übertrieben, gleichzeitig auf der Bühne stehen und Regie führen zu wollen», sagt sie. Im Stück «Springville», das jetzt als überarbeitete Fassung «After All Springville» ebenfalls in Zürich zu sehen ist, habe sie zum Beispiel aus einer wandelnden Kartonbox heraus inszeniert – also ohne etwas von der Bühne zu sehen, nur mit winzigen Notizen in der Box.
«Da braucht man schon ein riesiges Vertrauen vonseiten der Darstellerinnen und Darsteller, die ebenfalls blind in ihren Objekten spielen.» Bei «One Song» habe sie das relativ grosse Ensemble jedoch konzentrierter führen wollen. Und: «Ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen, es sollte eine gemeinsame kathartische Erfahrung werden.» Wenn Warlop dieser Tage ans Theater Spektakel kommt, dürfte sie dennoch im Fokus stehen.
Nicht nur, weil «One Song» einen unglaublichen Rausch der Emotionen erzeugt, sondern auch, weil Warlop nebst dem einstündigen Stück eine frisch vertonte «One Song»-Fassung auf Schallplatte mitbringt. Etwas lässt sich bereits vor der Plattentaufe verraten: «Wir haben unser einstündiges Stück zu einem achtminütigen Energiebonbon eingedampft. Klingt ziemlich crazy.» Wenn Miet Warlop das sagt, sollte man es sich definitiv nicht entgehen lassen.
One Song
Do, 17.8.–Sa, 19.8., jeweils 21.30 Seebühne Zürich
After All Springville
Mi, 30.8., 17.00 / Fr, 1.9., 20.00 / Sa, 2.9., 19.00 Süd Landiwiese Zürich
Flucht und Migrationim Mittelpunkt
Mit über 200 Veranstaltungen bietet das 44. Zürcher Theater Spektakel dieses Jahr ein Vollprogramm. Zu den Highlights gehören neben den Stücken von Miet Warlop die introspektiven Konzerte des kanadischen Indie-Pop-Stars Feist oder die Grossinstallation «Liveboat» des Berliner Kunstkollektivs Plastique Fantastique.
Dessen halbtransparente Bootskulptur verweist stellvertretend auf die wiederkehrenden Theater-SpektakelThemen Flucht und Migration. Als Besonderheit werden Gipsobjekte aus der aktuellen Theater-Spektakel-Kampagne beim Haupteingang des Festivals ausgestellt. Diese frei kombinierbaren Ein-WortPlatten stammen ebenfalls aus dem Eröffnungsstück «One Song» von Miet Warlop.
Zürcher Theater Spektakel
Do, 17.8.–So, 3.9. Landiwiese Zürich
www.theaterspektakel.ch