Wer hätte gedacht, dass es so viele verschiedene Arten Donner gibt: Knall-Donner, Hall-Donner, Polter-Donner. Schotter-Donner, Kicher-Donner oder Spreng-Donner. Einer offiziellen Klassifizierung gehören sie nicht an – das ist Herrn Geisers Ordnung. In Max Frischs Erzählung «Der Mensch erscheint im Holozän» versucht der 74-jährige einstige Firmenbesitzer seinen geistigen Zerfall aufzuhalten, indem er wie besessen Wissen sammelt. Denn: «Wissen beruhigt.»
Wie aber setzt man Frischs Erzählung um?
Frischs Text von 1979 ist eine Collage aus kurzen Erzählpassagen, Lexikoneinträgen und fiktiven Faksimile handschriftlicher Notizen des Protagonisten. Die Handlung, die sich daraus ergibt, ist nur eine lose. Ein Ich-Erzähler fehlt, den Einblick in Geisers zunehmend verwirrte Gedankenwelt gewährt eine distanzierte Erzählstimme.
Wie aber setzt man eine solch fragmentierte Erzählung auf der Bühne um? Diese Frage hat sich der Schauspieler Ulrich Matthes gestellt, wie er in einem Videointerview für das Deutsche Theater Berlin sagt. Matthes spielt in der Co-Produktion mit dem Theater Basel die Rolle des Herrn Geiser.
Der Herausforderung einer Bühnenadaption hat sich der Schweizer Regisseur und Musiker Thom Luz gestellt. Er hat sich in gewohnter Manier an den Stoff gemacht: Aus Frischs Erzählung wird eine Art Klangperformance. Ihn interessiere, was schwierig zu beschreiben sei, sagte der 36-jährige Zürcher nach der Premiere des Stücks vor zwei Jahren in Berlin. Es gehe um den Moment, wenn die Ordnung langsam verschwinde, so Luz: «Wenn Sprache versagt.»
In Frischs Erzählung sitzt Herr Geiser in seinem Haus in einem Bergort fest. Es hat seit Wochen nur geregnet, der Ort ist von der Umwelt abgeschnitten. Geiser liest in Lexika, schreibt Fakten auf Zettel, die er an der Wohnzimmerwand befestigt. Sein Schicksal beginnt so, in der nachgelesenen Erdgeschichte aufzugehen. Vor allem überlagert sich seine Furcht vor einem Erdrutsch mit seiner geistigen Erosion. «Der Mensch erscheint im Holozän» handelt von der Angst, älter zu werden, und vom Verlust des Selbst.
Bei Frisch dient ein wolkenverhangenes, beklemmendes Tessiner Tal als Kulisse für den Verfall. Thom Luz hat es nur noch als Andeutung übrig gelassen: Nebel wabert überall. Stattdessen ist das Bühnenbild ein Spiegel von Geisers bröckelndem Geist.
Vor dem inneren Auge entsteht eine Landschaft
Schwächliche Wände auf einer Plattform deuten ein Haus an, auf der Bühne stehen vier Klaviere im Kreis. Daniele Pintaudi und Leonhard Dering werden den Instrumenten im Verlauf des Stücks Beethoven entlocken, Einzeltöne und Disharmonien – je nach Geisers Grad der Verwirrung. Den Text hat Thom Luz neu angeordnet und auf mehrere Sprecher verteilt. Judith Hofmann, Franziska Machens und Wolfgang Menardi bombardieren Ulrich Matthes’ über weite Teile passive Figur Geiser mit diesen Fragmenten. Dazwischen singt ein Chor Tessiner Volkslieder, gibt es seltsame Radioansagen.
Thom Luz hat eine dichte Klang-Atmosphäre des Zerfalls geschaffen. Diese bietet sich ausgezeichnet für eine Hörspielversion des Stoffs an. Mit demselben Theaterensemble hat Luz sein Stück für Radio SRF 2 Kultur weiterentwickelt. Im Hörspiel gelingt es dem Regisseur noch deutlicher, Verwirrtheit und Zerfall des Protagonisten zu zeigen. Immer öfter mischt sich aufbrausende Frustration in die Stimme von Ulrich Matthes’ Geiser. Immer öfter wechseln sich die Erzähler ab, widersprechen sich, fallen sich schliesslich gegenseitig ins Wort. Anders als auf der Bühne wird hier deutlicher eine Landschaft vor dem inneren Auge gezeichnet. Da trommelt der Regen auf Dächer. Da deuten einzelne Klaviertöne thronende Felsformationen an, die Geiser durch den Feldstecher nach Rissen absucht. Die Hörer finden sich wieder in Frischs bedrückendem Tessiner Tal. Und in diesem lässt Thom Luz den Protagonisten langsam verblassen. Einmal noch wird Geiser sein Wissen aufzählen: Gesteine, Geschichte, seine Donner-Arten. Verzweiflung schwingt da bereits in der Stimme mit, dann ist er verschwunden. «Alles in allem ein stilles Tal», heisst es nur noch. Armer Herr Geiser.
Theater
Der Mensch erscheint im Holozän
Premiere: Do, 27.9., 19.30 Theater Basel
www.theater-basel.ch
Hörspiel
Nach Max Frisch
Textfassung und Regie: Thom Luz
Dramaturgie: Reto Ott
So, 23.9., 17.06
Radio SRF 2 Kultur