Links: eine weisse Stellwand. Rechts: eine weisse Stellwand. Beide übersät mit gelben Post-itZetteln. Dazwischen eine Schauspielerin, die Sätze sagt wie: «Um ernstlich an Selbstmord zu denken, war ich nicht mehr jung genug.» Und die dann lacht, als ob sie gerade ihr eigenes Leben am Pokertisch verwettet hätte.
Annette Wunsch verkörpert diese namenlose Ich-Erzählerin aus Marlen Haushofers Roman «Die Wand», und sie hat auch die Bühnenfassung für diese Schweizer Erstaufführung geschrieben.
Es ist die Geschichte einer Frau, die sich bei einem Ausflug ins Gebirge plötzlich von einer unsichtbaren Wand umschlossen sieht – und nicht mehr hinausfindet. Der Roman habe sie sofort angesprochen, sagt Wunsch zwischen den Proben in der Klibühni in Chur. «Ich hatte während Corona alle Arbeit verloren, war ganz auf mich selbst zurückgeworfen – so entsprach dieses Buch exakt meinem damaligen Seelenzustand.» Ausserdem habe sie schon lange nach einem Stoff für einen Soloabend gesucht.
Aus dem 60-jährigen Werk lässt sich viel herauslesen
Tatsächlich wurde «Die Wand», erschienen vor exakt 60 Jahren, bereits 2019 von einer französischen Bloggerin wiederentdeckt, worauf der Verlag mit Drucken kaum noch nachkam. Das zeigt, wie viel Dringlichkeit und Deutungspotenzial in diesem Roman steckt. Ökofeminismus und Kriegsangst, Aussteigertum und Pandemie – alles scheint herauslesbar.
Wie aber bringt man einen solchen Stoff auf die Bühne? Regisseur Marco Luca Castelli verweist auf den gleichnamigen Film von 2012 mit Martina Gedeck, der von der Kraft der Natur und Landschaft lebte. «Im Theater haben wir keine Chance, auch nur ansatzweise einen solchen Realismus zu zeigen.»
Realistisch ist höchstens der Regisseur selbst, wenn er bei der Probe mit dem ganzen Körper mitfiebert, wie ein Gummiball auf der Bühne hin und her springt und wenn nötig die noch unfertige Soundkulisse nachahmt. «Als leidenschaftlicher Destillatliebhaber fasziniert mich die reine Frucht», sagt Castelli später, «beim Theater ist es die Reduktion im Raum.»
Animierte Tiere flimmern über die Wand
Im Fall der «Wand» bedeutet das, dass die Bühne ganz zum Kopfkino der Schauspielerin wird, die manchmal auch die Romanautorin sein könnte. Mitunter auch gleichzeitig. «Wir stellten uns eine Figur vor, welche ‹Die Wand› gerade schreibt und folglich manche Ideen auch wieder verwirft», sagt Castelli. Davon zeugen die unzähligen Post-its, welche Gedankenfragmente, Gegenstände oder auch Tiere symbolisieren.
Kommt hinzu, dass in Videoanimationen des Künstlerduos Gabriela Gerber und Lukas Bardill immer wieder abstrakte Wesen über die Wände flimmern. «Diese Schraffurtechnik von Gerber und Bardill hat in meinen Augen etwas Archaisches», sagt Castelli.
Und Wunsch ergänzt: «Die Videos sind zwar reduziert und abstrakt, aber manche gehen einem trotzdem ans Herz.» Oder sie regen zum Schmunzeln an, wenn plötzlich unzählige Videomäuse an den realen Post-its auf den Wänden zu nagen scheinen. Da bekommt die ins Extrem gesteigerte Einsamkeit dieser Heldin fast schon eine tröstliche Note
Die Wand
Do, 4.5.–Sa, 13.5. Klibühni Chur
www.klibuehni.ch