Die Schauspielerin Grazia Pergoletti sitzt auf einem Stuhl und erzählt: «Ich bin zum ersten Mal im Gefängnis.» Früher, da habe sie Sport gemacht. Im Knast sitze sie nur wegen des allzu schnellen Fahrens. Denn Gewalt, das verabscheue sie. Beruhigend oder irritierend? Grazia Pergoletti probt die Rolle eines Gefängnisinsassen, der bald in die Freiheit entlassen wird.
Autorin und Regisseurin des Stücks ist die 1984 im Kanton Zürich geborene Anna Papst. Sie war in der Spielzeit 2017/2018 Hausautorin am Konzert Theater Bern im Rahmen des Förderprogramms «Stück Labor». Papst hat ein Regiestudium an der Zürcher Hochschule der Künste absolviert und sich mit ihren Inszenierungen in der freien Szene bereits einen Namen gemacht. Ihre Spezialität ist die «Reportage fürs Theater». Die Regeln dabei seien die gleichen wie im Journalismus. So habe sie bei diesem Format alle Akteure persönlich getroffen. Man denkt unwillkürlich an die auf Tonaufnahmen oder Protokolle basierenden Reenactements von Milo Rau. Doch Papst betont, dass es sich bei «Freigänger» um einen verdichteten Kunsttext handle. Um eine «Kondensierung der Wirklichkeit», wie sie sagt.
In den vergangenen drei Jahren hat Papst die offene Vollzugsanstalt im bernischen Witzwil regelmässig aufgesucht und mit rund 30 Insassen, Angestellten und Angehörigen gesprochen. Im Stück kommen nun neun Figuren zu Wort – darunter ein Psychiater und eine Gefängnisaufseherin. Dargestellt werden sie von drei Schauspielerinnen: Nebst Grazia Pergoletti treten Florentine Krafft und Jeanne Devos auf. Bewusst lässt Papst drei Frauen die Knastbrüder darstellen. «Ich will kein Bild, das man sich gemeinhin von einem Kriminellen macht, bedienen.» Vielmehr sei es ihr Ziel, Gewissheiten ins Wanken zu bringen.
Die Kostüme (Jasmine Lüthold) sind von der Kleidung in Witzwil inspiriert. Alle tragen die gleiche, mit einem roten Streifen versehene graue Hose. So könne man in der offenen Vollzugsanstalt die Insassen von den Mitarbeitenden unterscheiden, erklärt Papst.
Beton und Sprossenwand
Auch Bühnenbildnerin Annatina Huwiler hat sich an Witzwil orientiert. Am Spielort in der Vidmar 2 in Bern dominiert Beton. Als einzige Requisite kommt eine Art Sprossenwand zum Einsatz. Damit werden Schatten geworfen, die auf subtile Art und Weise ein Gitter evozieren. Anfangs sprach Papst ausschliesslich mit verwahrten Tätern in Lenzburg, unter anderem einem zweifachen Mörder. Auch er kommt im Stück zu Wort.
Doch letztlich fand Papst es interessanter, das Publikum mit Insassen zu konfrontieren, die bald freikommen. Wäre ich bereit, dem ehemaligen Raser, Drogendealer oder Gewalttäter einen Job oder eine Wohnung zu geben? Möchte ich diesen Mann in meinem Kegelklub? Solche Fragen soll sich das Publikum stellen. «Wiedereingliederung fordert von den Bürgerinnen und Bürgern ein Engagement», ist Anna Papst überzeugt.
Sie selbst musste während der Befragungen lernen, sich abzugrenzen. «Wenn du jemandem mehrere Stunden lang zuhörst, der vielleicht selbst kein starkes soziales Netz hat, ist es manchmal schwierig, klarzustellen, dass man keine Freundin ist.» Gleichzeitig sei es ihr aber wichtig gewesen, ein Gefühl der Wertschätzung zu vermitteln. Sämtliche Texte wurden von den Beteiligten abgesegnet. Die unterschiedlichen Charaktere sollen auch mit ihren typischen Merkmalen, ihrer Mimik und Gestik lebendig werden. Keinesfalls sollen sie dabei zu Karikaturen werden. «Es wird niemand in die Pfanne gehauen.»
Einige, die mittlerweile wieder auf freiem Fuss sind, würden an eine Vorstellung des Stückes kommen. Einige Personen wurden aus Persönlichkeitsschutzgründen anonymisiert, während andere unter ihrem realen Namen auftreten. Der von Grazia Pergoletti gespielte Berger sagt einen denkwürdigen Satz: «Man ist doch nicht die gleiche Klasse Mensch wie diejenigen, die den Schlüssel haben.» Die Insassen hätten einen viel präziseren Blick auf den Begriff der Freiheit, so Papst. Berger hat bereits ein Restaurant reserviert. Wenn er rauskommt, will er Meeresfrüchte essen. «Das gibt es hier nicht.» Und eigentlich möchte er gerne mit der Frau, die ihn befragt, essen gehen.
Querschnitt der Gesellschaft
Die Autorin und Regisseurin war überrascht, im Gefängnis tatsächlich einen Querschnitt der Gesellschaft anzutreffen. Vom Akademiker bis zum Hilfsarbeiter, von Menschen, die in schwierigsten Verhältnissen aufgewachsen sind, bis hin zu verhätschelten Söhnen reicher Eltern war alles vertreten. Und auch die Verbrechen würden sich stark unterscheiden. «Einer sitzt hinter Mauern, weil er seine Rechnungen nicht mehr bezahlt hat, während ein anderer Menschen tätlich angegriffen hat.»
Berger glaubt nicht so sehr an das Gefängnis als Besserungsanstalt. Die Freiheitsstrafe habe ihn vor vielen Rechnungen bewahrt, meint er scherzend. «Denn ich wäre dieses Jahr noch viele Male in eine Radarfalle geraten.» Grazia Pergoletti, die Berger ihre Stimme verleiht, zwinkert, als sie diesen Satz zu Ende gesprochen hat.
Freigänger
Premiere: Do, 24.1., 19.30
Vidmar 2 Bern
www.konzerttheaterbern.ch