Der Freiheitskämpfer zwischen Familie und Nation, der legendäre Apfelschuss und politischer Widerstand: Wilhelm Tell ist Schweizer Gründungsmythos, Klassiker im Deutschunterricht und Projektionsfläche für Ideologen und Politikerinnen. Auf den hiesigen Bühnen ist das Drama von Friedrich Schiller auch 220 Jahre nach der Veröffentlichung noch ein häufiger Gast.
In Interlaken wird das Stück seit über 100 Jahren jedes Jahr aufgeführt – mit kleinen Unterbrüchen wegen Geldmangels, des Zweiten Weltkriegs und der Coronapandemie. Die Tellspiele setzen auf zeitgetreu nachgebaute Mittelalterhütten, echte Tiere, echt aussehende Kostüme und etwa 200 engagierte Freiwillige vor und hinter den Kulissen.
Robin Hood als englischer Wilhelm Tell
Dieses Jahr schert der Verein jedoch aus seiner Tradition aus und lässt statt Wilhelm Tell einen anderen Freiheitskämpfer auferstehen. «Robin Hood hat uns begeistert», sagt der diesjährige Projektleiter Claudio Gloor. «Er ist quasi ein englischer Wilhelm Tell.»
Schillers Drama hätten mittlerweile alle Interessierten gesehen, deshalb sei es Zeit für etwas Abwechslung, so Gloor. «Einige Alteingesessene fanden, dass das nicht gehe und man immer Tell spielen müsse. Sie kämen erst wieder, wenn wieder Tell gespielt wird.
Viele waren aber auch froh über das neue Stück.» Die Spiele würden trotz anderer Geschichte jedoch gewohnt authentisch daherkommen, die Kulisse sei dieselbe wie bei Tell. «Es werden auch wieder Tiere mitmachen, auch wenn die uns immer die Show stehlen», sagt Gloor und lacht.
Einen kleinen Trost für die alteingesessenen Tell-Fans gibt es: Klemens Brysch, der die Robin-Hood-Fassung für Interlaken geschrieben hat, habe einen Söldner namens Wilhelm von Interlaken in die englische Sage eingebaut.
Auch in Tells Heimat, im urnerischen Altdorf, gibt es regel mässige Tellspiele. Diese finden jedoch im Gegensatz zu Interla ken nur alle vier Jahre statt und setzen auf neue Adaptionen des Dramas statt auf authentische Kulissen und Kostüme. Dieses Jahr führt Annette Windlin Regie. In ihrem Schrank stehen unter anderem der Innerschweizer Kulturpreis und der Anerkennungspreis des Kantons Schwyz.
Altdorf fragt nach der Moral im Krieg
Die Autorin, Regisseurin und Schauspielerin fokussiert in ihrem Tell auf die Frage, wann in einem Krieg die Gegenwehr in Rache kippt. «Diese Frage stellt sich in allen Kriegen; auch in der Ukraine und im Nahen Osten», sagt sie.
Windlin stellt den fünften Akt des Dramas ins Zentrum ihrer Inszenierung. Darin geht es um Parricida, der bei Wilhelm Tell Zuflucht sucht, nachdem er den Kaiser aus Geldgier ermordet hat. «Wir stellen seinen und Tells Mord einander gegenüber und fragen, ob es einen besseren Mord gibt», sagt Windlin.
Sie stellt also die Frage nach der Moral im Krieg. Als Innerschweizer Künstlerin weiss Windlin auch um die gesellschaftspolitische Komponente des Stoffs: «Der Tell-Mythos wurde schon immer von links oder rechts vereinnahmt, und schnell kommt der Vorwurf, man lasse sich einspannen. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, einfach meinem Interesse zu folgen.»
Kriegerische Frauen und ein vorbelasteter Held
Während Wilhelm Tell in der Schweiz ein alter Hut ist, wird er als Blockbuster-Stoff gerade richtig entdeckt. Nach einigen mässig erfolgreichen Versuchen widmet sich nun Regisseur Nick Hamm mit einem grossen Budget und bekannten Schauspielern wie Claes Bang («The Square»), Golshifteh Farahani («Fluch der Karibik») oder Connor Swindells («Barbie») dem Stoff. Nick Hamm drehte sein actiongeladenes Historiendrama «William Tell» bis November letzten Jahres in Südtirol, derzeit befindet es sich in der Nachbearbeitung.
Der Kinostart ist noch dieses Jahr geplant, sagt Hamm im Videogespräch mit dem kulturtipp. Für den Regisseur ist der Apfelschuss-Moment «eine der besten je geschriebenen Szenen». Sie habe ihn inspiriert, sich dem Mythos Tell im Stil eines archaischen Epos anzunehmen.
Hamm geht von Schillers Drama aus, fügt jedoch einiges hinzu. So kämpfte sein Wilhelm Tell als junger Mann in den Kreuzzügen, kennt die Gräuel des Krieges und hatte sich geschworen, nie mehr eine Armbrust aus Wut zu erheben. Und auch andere Figuren bekommen einen neuen Anstrich: «Ich konnte Schillers Frauenbild nicht ertragen», sagt Hamm.
«Ihr Leben besteht aus Kochen, Putzen und darin, ihren Mann zu unterstützen.» In seinem Film sind die Frauen Kriegerinnen, die den Krieg als notwendig ansehen und viel besser darauf vorbereitet sind als ihre Männer.
«Ich will Schillers Poesie rüberbringen»
Schillers Sprache sei in einer Zeit der verkürzten Aufmerksamkeit eine grosse Herausforderung. Er habe sie – in der englischen Übersetzung – in eine für die damalige Zeit realistische Alltagssprache übersetzt. Den Klang wollte er jedoch erhalten. «Ich will Schillers Poesie und seine politische Analyse rüberbringen, sie aber so selbstverständlich klingen lassen, als würde man einen Kaffee bestellen», sagt Hamm. Deshalb habe er Schauspieler aus Europa engagiert, deren englische Sprachfärbung für dieses Vorhaben besser geeignet sei als die ihrer US-Kollegen. «Wenn nur ein einziger Fünfzehnjähriger auf der Welt meinen Film schaut und Schillers 200-jährige Gedanken über eine Geschichte aus dem 14. Jahrhundert versteht, dann habe ich mein Ziel er reicht.»
Robin Hood
Premiere: Sa, 22.6., 20 Uhr
Tell Arena Interlaken BE
Wilhelm Tell
Premiere: Sa, 24.8., 15 Uhr
Tellspielhaus Altdorf UR
William Tell
D 2024, Schweizer Kinostart: Voraussichtlich Ende 2024