Mentale Gesundheit ist kein Tabu mehr. Heute reden viele junge Menschen so beiläufig über den Termin bei der Psychotherapeutin wie über den Coiffeurbesuch. Seit das Stigma gebrochen ist, profitieren mehr Menschen denn je von psychotherapeutischer Unterstützung. Das hat auch damit zu tun, dass das Thema auf Social Media und in der Popkultur omnipräsent ist.
Therapiesitzung als Reality-TV-Format
In «Beziehungskosmos», dem meistgehörten Schweizer Podcast der letzten Jahre, analysieren eine Paartherapeutin und eine Journalistin Beziehungsprobleme. Im Film «Auf der Couch in Tunis» (2019), der in Venedig den Publikumspreis gewann, kehrt eine Psychologin in ihr Heimatland Tunesien zurück, um dort eine Praxis zu eröffnen. Und die Arte-Serie «In Therapie» zeigt Menschen verschiedener Länder in der Therapie und offenbart damit viel über die jeweilige Kultur.
Die Unterhaltungsindustrie ist aber schon einen Schritt weiter. In sogenannten Therapy-Reality-Formaten beobachten die Zuschauer echte Psychotherapien. Beispiele dafür sind die US-amerikanische Sendung «Couple Therapy» oder «Eric gegen Stehfest», in der RTL einen Schauspieler in die Psychotherapie begleitet – reisserisch angepriesen mit dem Slogan «ohne Tabus, ohne Geheimnisse».
Die polnische Theaterregisseurin Gosia Wdowik, die sich aktuell für das Zürcher Theater Neumarkt mit dem Thema auseinandersetzt, sagt: «Wir leben in einer Therapiekultur.» Das sehe man nur schon in der Alltagssprache. «Sogar in der Politik ist nun von Heilung und Trauma die Rede.»
Das grosse Interesse an den Filmen und Serien sei nachvollziehbar und zutiefst menschlich. «Wir alle wollen uns selbst verstehen: Welches Bild von mir ist das echte? Bei dieser Suche kann das Beobachten von anderen hilfreich sein.»
Gloria Eccher, Türöffnerin wider Willen
Die Popularisierung der Psychotherapie startete jedoch mit einem massiven Vertrauensmissbrauch: 1965 willigte die US-Amerikanerin Gloria Eccher ein, sich während dreier Therapiesitzungen mit verschiedenen Ansätzen für ein Ausbildungsvideo filmen zu lassen. Die sehr persönlichen Videos wurden ohne ihr Einverständnis im Kino gezeigt und sind heute noch auf Youtube unter «Three Approaches to Psychotherapy» zu sehen.
Eccher klagte erfolglos gegen die Veröffentlichung. Eine befreundete Therapeutin zeigte der Regisseurin Wdowik die Videos. In ihrem Stück «Gloria – The Right to Be Desperate», das im Neumarkt auf Englisch mit deutschen Übertiteln gezeigt wird, werden Teile von Glorias Videos gespielt. Aber die ausgestellte intime Situation wird auch ins Hier und Jetzt verlegt. «Heute sind wir Kameras viel mehr gewohnt», so Wdowik.
«Es ist spannend, damit zu experimentieren.» Traumabewältigung oder Selbstdarstellung? Es geht jedoch nicht nur um die Situation, sondern auch um das, was Gloria Eccher in der Therapie offenbart hat. «Ich fand es interessant, dass Gloria viele Probleme anspricht, die Frauen noch heute beschäftigen», sagt Wdowik. Etwa, dass die geschiedene Gloria mit Männern Sex hat, sich aber auch dafür schämt und es vor ihrer Tochter verheimlicht.
Die drei männlichen Psychotherapeuten verorten das Problem allesamt bei Gloria, eine gesellschaftliche Komponente wird nicht miteinbezogen. «Gloria kann aber so viele Therapien machen, wie sie will», so Wdowik. «Wenn die Gesellschaft sich nicht verändert, wird ihre Scham und ihre Zerrissenheit zwischen Lust und Mutterschaft nicht verschwinden.»
Dieser starke Fokus auf das Individuum sei auch ein problematischer Punkt in der heutigen Therapiekultur. «Das Darstellen des eigenen Traumas kann in Selbstoptimierung und Selbstdarstellung kippen, die wiederum monetarisiert wird durch Klicks auf Social Media oder Einschaltquoten in Reality-TV-Shows.»
Intimität werde zunehmend zu einer Art Währung. Die Neumarkt-Dramaturgin und -Direktorin Tine Milz findet: «Wir stehen an einem Scheideweg. Die Omnipräsenz des Therapiethemas kann uns egoistischer oder verbundener machen. Die Frage ist, ob wir nur konsumieren und senden oder uns auch gegenseitig zuhören wollen.» Voyeurismus und Empathie könnten hier Hand in Hand gehen.
Chancengleichheit dank Popkultur
Im Stück werde man die Therapiekultur nicht werten, sondern sie untersuchen. Denn sie habe auch Vorteile. «Psychotherapie ist kostspielig», so Wdowik. «Wenn Menschen durch einen Film oder Podcast Zugang zu Therapie-Werkzeugen bekommen, schafft das mehr Chancengleichheit.» Wdowik forscht in ihren Stücken gern zu mentaler Gesundheit und Repräsentation von Gefühlen auf der Bühne, oft mit einer poetischen Bildsprache.
Bei «Gloria» ist auf der Bühne denn auch kein klinisches Therapiezimmer zu sehen, sondern ein grünbewachsener Pflanzenhügel, über den sich ein Weg schlängelt. Wie genau das Bühnenbild die Therapiegesellschaft aufnimmt, will Wdowik noch nicht verraten. Sie sagt nur so viel: «Wir Menschen kommen aus der Natur, auch wenn das hier Fake-Natur ist.» Trotz Plastikpflanzen hat der grüne Hügel etwas Beruhigendes.
Vielleicht kann der Durst nach Authentizität und echten psychologischen Tiefen ja auch durch fiktive Dramen und gespielte Gefühle gestillt werden. Denn was ist schon echt?
Theater: Gloria – The Right to Be Desperate
Premiere: Do, 22.8., 20.00
Theater Neumarkt Zürich
Podcast: Beziehungskosmos
Gängige Podcastanbieter
Film: Auf der Couch in Tunis
Apple TV+, Sky TV
Serie: In Therapie
Zurzeit nur auf DVD erhältlich
Serie: Eric gegen Stehfest
RTL+, Apple TV+