«Der Stein hört immer zu, der Stein enttäuscht mich nicht, der Stein erzählt Geschichten», murmelt Alireza Bayram mit leerem Blick und drückt besagten Brocken an die Brust. Der scheint Halt zu geben. Und er ist greifbar, im Gegensatz zur Weite des Alls, durch die der Schauspieler taumelt. Futuristisch anmutende Pflanzen flankieren die sanft ansteigende Bühne. Am Ende dieser «Raumkapsel», wie sie am Theater Neumarkt genannt wird, fällt der Blick durchs «Fenster zum Universum», hinter dem projizierte Himmelskörper den Raum öffnen.
Die Dialoge entstehen erst während der Probe
Mit dem Science-Fiction-Theater «Star Magnolia» verhandelt der 35-jährige Regisseur Jeremy Nedd die Romane «Gleichnis vom Sämann» und «Gleichnis der Talente» der afroamerikanischen Autorin Octavia E. Butler (1947–2006) und führt sie weiter. In ihrer Dystopie beherrschen Armut, Kriege, Drogen, Sklaverei, Rassismus und die Klimakrise die Welt. Vor diesem Hintergrund werden die Eltern der Protagonistin Lauren Olamina ermordet, woraufhin das Mädchen das Glaubenssystem «Earthseed» entwickelt, das «Gott in der Veränderung» sieht und Menschen versöhnen will. Bevor sie im dritten Roman den Neustart auf anderen Planeten erzählen konnte, starb Butler.
«Das Lustige an der Romanwelt ist, dass diese eher Prophezeiung als Fiktion ist, weil sie so nahe an dem dran ist, was gerade passiert», sagt Nedd. Am Neumarkt lässt er nun eine Gruppe von Earthseed-Anhängern im Jahr 2094 zu neuen Planeten reisen. Vor den Proben existierten im Kopf des Regisseurs zwar Bilder. Dialoge aber entstanden erst später: «Ähnlich wie Earthseed ist auch das Stück gewachsen. Wir sassen rum und sprachen über den Kosmos, Objektophilie oder verbrachten Tage mit Gärtnern.» Dokus über die Voyager-Missionen halfen, ein Gefühl für den «Overview-Effekt» zu bekommen. Von diesem ist die Rede, wenn Erde und Sterne aus dem Kosmos erfahren werden. Anschliessend tasteten sich die Schauspieler improvisierend an dieses «transzendentale Gefühl» heran. Ihre Dialoge wurden aufgezeichnet, transkribiert und für das Stück gebürstet.
«Auch die Konstellation der Leute, die das Stück erarbeiten, kann als Sci-Fi bezeichnet werden», sagt der Regisseur über die bunt gemischte Truppe, welche auf der Bühne Englisch, Arabisch, Japanisch, Deutsch und Schweizerdeutsch spricht. Was der aus Brooklyn stammende Choreograf abliefert, ist Lichtjahre vom klassischen Sprechtheater entfernt. Verknüpft werden physischer Ausdruck und philosophische Fragen, die lineare Zeit wird ausgehebelt. Zu abstrakten Klängen schweben die Schauspieler in Overalls, Baumkostümen oder glitzernden Raumanzügen durchs All.
Das Resultat entwickelt einen seltsamen Sog. In der Szene «Star-Gazing» etwa, die sich abgewandelt wiederholt, wälzt sich grüner Stoff in Zeitlupe die Bühne runter. Zwei Kosmonauten schälen sich heraus und philosophieren über Sehnsüchte und den Blick in die Sterne, der aus dem All «wie ein Computerspiel» und von der Erde wie «Kaminfeuer im Fernsehen» wirke.
Star Magnolia
Bis Sa, 17.10., Neumarkt Zürich