«Warum sind die Schweizer von dieser Missbrauchssage so besessen?!» Das fragt sich eine der jungen Schriftstellerinnen, als sie sich mit ihren drei Kolleginnen im Museum die lädierte Sennentuntschi-Figur anschaut, die vor 20 Jahren auf dem Dachboden eines alten Hauses im bündnerischen Calancatal gefunden wurde. Die bekannte Sage vom Sennentuntschi ist seit Urzeiten im ganzen deutschsprachigen Alpenraum verbreitet und hat immer wieder Stoff für Literatur, Theater und Film geboten. Und zuweilen für handfeste Skandale gesorgt. Etwa als das Schweizer Fernsehen 1981 Hansjörg Schneiders erotisches Dialektschauspiel sendete, in dem sich drei Sennen an einer selbstgebastelten Strohpuppe vergehen, die sich blutig rächt.
Lustvoll überzeichnet und mit viel Selbstironie
Was passiert, wenn dieser brutale Mythos vom satirisch-bissigen Autorinnenkollektiv Wiener Grippe/KW77 unter die Lupe genommen wird? Klar, dass daraus ein nicht minder derbes und böses Theaterstück entsteht, das sich mit der blutrünstigen Sage ebenso auseinandersetzt wie mit Frauenfeindlichkeit und eingefahrenen Geschlechterbildern. Und so erzählen die vier jungen Wiener Schriftstellerinnen Stefanie Sargnagel, Barbi Markovic, Lydia Haider und Maria Muhar in «Tuntschi. Eine Häutung» lustvoll überzeichnet und mit viel Selbstironie von ihrer Recherchereise im klapprigen Bus in den Schweizer Bergen. Im Gepäck: ein «männliches Sexgummituntschi».
Horror-Klischees und klassische Sagenbilder
Als «feministische Satire» bezeichnet Regisseurin Sara Ostertag das Stück, das sie für die Bühnen Bern, wie das ehemalige Konzert Theater Bern neu heisst, inszeniert. «Wir stellen die Frage, warum diese Sage so populär ist, verdrehen dabei Sexismen, um einer Geschichte, die ‹immer schon so ist›, witzig und brutal den Boden zu nehmen.» Dabei werden Horror-Klischees genauso «verwurstet» wie klassische Sagenbilder, verrät die Wiener Theatermacherin. «Wir mischen Trash und Märchen, Popzitate und archaische Bilder. Es geht um das Überschreiben von Vorstellungen – nicht um sie zugänglicher zu machen, sondern um sie zu neutralisieren.»
Unterhalten, verwirren und anregen
«Lässt sich auf dieser Reise gar die Schweizer Seele kennenlernen?», fragt sich eine der Autorinnen einmal. Sicher ist, dass sich in der Satire einige Abgründe auftun, die sich schnell zum irren Albtraum ausweiten können. Ganz konkret wird das etwa, wenn das Quartett sein Theaterstück mit Texten aus sogenannten Incel-Foren anreichert – Online-Netzwerke von antifeministischen Männergruppen und Rechtsradikalen, die sich dort in ihren Gewaltfantasien und ihrem Frauenhass gegenseitig bestätigen.
Die 2019 gegründete Wiener Grippe/KW77, die unter anderem durch ihre satirischen Reiseberichte bekannt geworden ist, findet ihre eigene, bitterböse Version der Schweizer Sage. Der Theaterabend spiele mit lustvollen Bildern, sagt Sara Ostertag. Und er soll Spass machen, verwirren und dazu anregen, sich selbst einen Reim auf das grausige Märchen zu machen.
Tuntschi. Eine Häutung
Premiere: Fr, 10.9., 19.30
Vidmar Bern
www.buehnenbern.ch
Lesung
Wiener Grippe/KW77
Sa, 11.9., 19.30 Stadttheater Mansarde Bern