«Es gibt viele gute Gründe, rauszugehen. Man muss auf die Toilette oder hat die Kaffeemaschine nicht abgeschaltet oder ist das Theater nicht gewohnt.» Rüdiger Hauffe steht zwischen dem hufeisenförmig angeordneten Publikum und spricht sich selbst Mut für diese Inszenierung zu.
Das Thema – der Missbrauch, der Hauffe in seiner Kindheit widerfahren ist – ist persönlich und fordernd. Das Publikum soll das UG, eine der Spielstätten des Luzerner Theaters, frei verlassen können, wenn es ihm zu viel wird. Und Rüdiger Hauffe versucht, das dann nicht persönlich zu nehmen.
«Das bleibt unter uns»
Das Stück «ausgesprochen ich» in Luzern ist kein Einzelfall. Immer häufiger bringen Theaterhäuser neben fiktiven Geschichten auch reale Begebenheiten oder sogar biografische Erlebnisse ihrer Schauspieler auf die Bühne. So erzählte kürzlich auch die Basler Schauspielerin Yüksel Esen im Stück «Und dann war ich nicht mehr» vom Frauwerden zwischen der schweizerischen und der türkischen Kultur.
Diese wahren Geschichten heissen mal «Autofiktion», mal «persönlicher Abend» oder «autobiografische Performance». Neben dem persönlichen Ansatz erfreut sich auch das Dokumentartheater grosser Beliebtheit, das reale historische oder aktuelle Ereignisse auf der Bühne verhandelt. Und natürlich gibt es Mischformen, in denen sich Klassiker und Realität begegnen.
In Luzern wechselt die Inszenierung zwischen verspielten Bildern aus Hauffes Jugend und dem direkten Erzählen des erwachsenen Manns, der plötzlich keine Luft mehr kriegt, weil das Trauma seinen Körper einholt. Hauffe springt aus der Bühnen-realität in eine übergrosse Bettdecke und eine Vergangenheit, in der Stoffhund Schnuffi seinen Part als Kind einnimmt. Der Schauspieler schlüpft derweil in die Rolle seines Kindheitshelden, Space-Western-Comiclegende Bravestarr, und stattet seinem Jugend-Ich einen Besuch ab, erlebt Abenteuer mit ihm.
Irgendwann verlangt der Held und Mentor einen Kuss auf den Mund und schärft dem kleinen Rüdiger ein: «Das bleibt unter uns.»
Kreative Verarbeitung eines Traumas
Die Idee, seine Missbrauchserfahrung auf die Bühne zu bringen, kam von Hauffes Studienfreund Bene Greiner, Regisseur von «ausgesprochen ich», wie Hauffe im Luzerner Café «La vie en rose» erzählt. «Ich hatte ihm mein Geheimnis anvertraut, und er bot mir an, es auf der Bühne kreativ zu verarbeiten. Er sagte: ‹Ich schlage das jetzt vor, und wenn du das irgendwann möchtest, kommst du zu mir.
Ich spreche nicht mehr davon.› Ich bin darauf eingegangen, weil es für mich die logische Konsequenz meiner Therapiearbeit ist.» Den Probenprozess beschreibt Rüdiger Hauffe als «spiralförmig». Erst habe er von Erlebnissen erzählt, dann Szenen ausprobiert und die Probe schliesslich in der Therapie besprochen. «So konnte ich die Perspektive wechseln und Abstand gewinnen. Das Team hat mich hunderprozentig unterstützt.» Auf diese Weise habe er eine Retraumatisierung vermieden.
Keine Nabelschau
Persönliche Geschichten sind berührend. Und das Schicksal eines Schauspielers, in dessen Blick sich der Schmerz und der Kampf spiegeln, lässt sich leichter nachfühlen als das eines Helden der griechischen Mythologie. Trotzdem sind nicht alle Zuschauer und Feuilletonistin nen begeistert davon, dass die Theaterhäuser oft auf die Realität statt erfundene Geschichten zurückgreifen.
Doch wo liegt eigentlich die Kernkompetenz des Theaters? In der Echtheit oder der Fantasie? Hauffe sieht grosses Potenzial in Ersterem. «Kein Medium kann echte Begebenheiten so unmittelbar zeigen wie das Theater. Schauspieler und Publikum teilen Raum und Zeit. Das schafft Nähe.» Wolfram Heberle leitet den Studiengang Theater an der Hochschule der Künste Bern. Er sagt: «Das Reale, Authentische übt im Theater heute einen grossen Reiz aus.»
Das macht Sinn – vor allem in Zeiten, in denen ein grosser Teil des Lebens virtuell über Smartphones oder andere technische Hilfsmittel stattfindet. Heberle meint aber: «Wenn man echte Erlebnisse auf die Bühne bringt, ist es wichtig, nicht in eine Nabelschau abzurutschen. Und es wäre auch schade, wenn die Theaterbühne nur noch Echtes zeigen würde. In eine andere, fiktive Rolle zu schlüpfen, ist ein sehr empathischer Akt.» Für ihn stehen Realität und Fantasie daher nicht in Konkurrenz.
Die Echtheit ist derweil kein neuer Trend und hängt auch mit der Entwicklung vielfältiger Spielweisen zusammen. So ist die imaginäre vierte Wand (zum Publikum) erst Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt und 170 Jahre später wieder abgeschafft worden. Rüdiger Hauffe spricht das Publikum in Luzern direkt an. Er erzählt ihm, wie er den Täter als Erwachsener konfrontierte und wieder manipuliert wurde. Hauffe schimpft mit sich selbst: «Wehr dich mal! Immer stehst du nur da und passt dich an!»
Das Theatersetting ermöglicht Hauffe, alle Perspektiven einzunehmen, auch die seiner inneren Stimme. Und es gibt Hauffe die Macht, seine Geschichte so zu erzählen, wie er will.
Shakespeare kann einpacken
Rüdiger Hauffe ist Schauspieler und Theaterautor gleichzeitig. Auch das ist eine Rollenverteilung, die man öfter sieht. Heberle sagt: «Sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen und selbst zu kreieren, ist Teil der Schauspielausbildung und wird explizit von den jungen Theaterleuten eingefordert. Da ist der Sprung zum Autor nicht mehr weit.»
An vielen grossen Häusern finde inzwischen häufig eine gemeinsame Stückentwicklung im Team statt. Hauffes Rückeroberung der Erzählmacht geht einher mit dem Brechen des Schweigens, das ihn jahrelang einsam machte. Das Lied «Sound of Silence», das er gegen Ende anstimmt, bekommt eine neue Schwere. Es ist ein starkes Stück, dass das Luzerner Theater ermöglicht hat. Ein reales Schicksal, so bewegend, dass Shakespeare dagegen einpacken kann. Verschwinden soll er deshalb aber nicht.
ausgesprochen ich
Bis Fr, 1.3. UG
Luzerner Theater