Sprachlos. So stranden die Menschen, die aus ihrer Heimat vor Krieg und Elend flüchten, in Europa. Die traumatischen Erinnerungen an die Kriegsgräuel und an die Flucht übers Meer hallen nach, die Sprache im fremden Land ist eine unbekannte Melodie. Der Berg Bürokratie, der Kampf um einen Platz in der Sicherheit, lässt sich ohne fremde Hilfe nicht bewältigen. Die österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek setzt dieser Sprachlosigkeit im Stück «Die Schutzbefohlenen» eine Rede-Flut entgegen – schwankend zwischen wütender Anklage und flehender Bitte. Ein Flüchtlings-Klagechor in der Wir-Form, der aber unvermittelt in die mitteleuropäische Perspektive wechseln kann.
Die Regisseurin Claudia Meyer verdeutlicht die Sprachlosigkeit in ihrer Inszenierung im Konzert Theater Bern unter anderem mit Tanz. Beim Probenbesuch in Bern loten die drei Schauspieler und zwei Tänzer Varianten aus, die der Text ihnen eröffnet: Während Schauspieler Tobias Krüger zu einer Anklage ansetzt, lässt sich Tänzerin Patricia Rotondaro von ihm wie eine Marionette führen. Harte Bewegungen begleiten harte Worte: «Den Tod können Sie an anderen erfahren, den eigenen leider nur an sich selbst, und das ist dann keine Erfahrung mehr, na, ich weiss nicht, ich könnte Ihnen Sachen erzählen vom Tod, vom Kopfabschneiden, vom Erschiessen, Erschlagen, Erstechen …» Abrupt drückt er ihren Kopf nach unten. Sie selbst bleibt machtlos, eine von fremden Händen gezogene Marionette.
In einer anderen Szene wird der Jelinek-Text zu einem Rap umfunktioniert: «Wir werden mit böser Rede euer gedenken, aber das wird euch ganz egal sein, das wissen wir schon, denn nicht legal sein wird unser Aufenthalt, das ist überhaupt euer Lieblingswort, legal, legal, nicht legal der Aufenthalt, trotzdem, wir flehen, wir flehen, ihr dort oben, hallo, wenn ihr uns nicht wollt, bleiben wir euch ja immer noch als eure Aufgabe, aus den bisher dargelegten Gründen, ja.» Im rhythmischen Sprechgesang tragen Krüger und sein Schauspielkollege Sebastian Schneider diesen Text vor, während die Tänzerin improvisierend einen Ausdruck ohne Worte sucht.
Den Ton finden
«Es ist eine Riesenherausforderung, den Flüchtlingen eine Stimme zu leihen, ohne Agitationstheater zu betreiben, ohne einen dokumentarischen Ansatz zu wählen – allein mit theatralischen Mitteln», sagt Regisseurin Claudia Meyer. In der Uraufführung in Mannheim hatte ihr Kollege, der Theatermann Nicolas Stemann, den Chor mit realen Flüchtlingen besetzt und damit eine Debatte rund um Rassismus und Exotismus ausgelöst. Meyer schlägt in Bern einen anderen Weg ein: «Jelinek hat eine Kunstform gewählt, eine elaborierte Sprache, welche die Flüchtlinge nicht sprechen, sondern die besser zu Schauspielern passt.» Es sei eine Gratwanderung, den richtigen Ton, die richtige Umsetzung, die richtige Dosis an Ironie zu finden.
Meyer verlässt sich auf die Wirkung des starken Textes, der ohne Handlung oder einzelne Szenen auskommt. Elfriede Jelinek hatte das Stück als Reaktion auf die Flüchtlingsproteste in der Wiener Votivkirche im Jahr 2012 und auf die humanitäre Katastrophe der ertrunkenen Flüchtlinge vor Lampedusa geschrieben. «Jelineks Stück ist scharf, direkt, konkret, wütend, manchmal sogar lustig – dem kann man sich nicht entziehen», ist Meyer überzeugt.
Recht auf Schutz
Die Autorin verknüpft Aischylos’ antike Tragödie «Die Schutzflehenden» mit der aktuellen Lage der Flüchtlinge. Die Flehenden werden in Jelineks Version zu den Schutzbefohlenen, also zu Menschen, die ein Recht auf Schutz haben. Während in der Antike die Flüchtlinge nach sorgfältigem Abwägen freundlich aufgenommen werden, endet es in der Gegenwart hoffnungslos: «Es wird nicht geschehen. Es ist nicht. Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.» Dazu kommen in Jelineks Text ironisierte Versatzstücke aus einer Broschüre des österreichischen Bundesministeriums für Inneres, die einen geheuchelten Menschenrechtsdiskurs offenlegen. Ebenso klingen Ovids «Metamorphosen» oder Texte des Philosophen Martin Heidegger an, die seine faschistische Auffassung von Heimat zeigen.
Während der Proben setzt sich die internationale Theatertruppe mit drei deutschen Schauspielern, einer argentinischen Tänzerin, einem französischen Tänzer und einem ukrainischen Musiker intensiv mit der Thematik auseinander – durch Zeitungsartikel, Fernsehberichte oder philosophische Texte. Eigene Erlebnisse mit einem fremden Land fliessen ebenso ein wie der Austausch mit Flüchtlingen. An konkrete Schweizer Bezüge wagt sich die deutsche Regisseurin aber nicht. Dazu habe sie zu wenig Einblick in die hiesigen Verhältnisse, sagt sie. «Die Wut, die durch Jelineks Text rüberkommt, ist aber allgemeingültig.»
Von oben herab
Das von der Regisseurin gewählte Bühnenbild setzt die Perspektive um, welche in der Flüchtlingspolitik herrscht – mit einer gewissen Distanz, von oben herab. Wie weit fühlen sich die Mächtigen der EU-Staaten den humanistischen Idealen verbunden, wie sie im antiken Text von Aischylos gelten? «Der Text soll auch Fragen aufwerfen, wie wir selbst mit Flüchtlingen und mit den Bildern und Berichten über sie umgehen», sagt Meyer. Noch ist die Theatertruppe am Ausprobieren, wie sich die Sprachlosigkeit, das Unerhörte am besten auf die Bühne transportieren lässt.
Aufführung
Die Schutzbefohlenen
Premiere: Do, 24.3., 19.30 Vidmar 2 Bern (ausverkauft)
Weitere Daten: www.konzerttheaterbern.ch
Benefizveranstaltung
Refugees welcome circle: «Are you in? Benefiz gegen Rassismus. Tanz trifft Text.»
Schauspieler tragen Texte aus «Die Schutzbefohlenen» vor.
Sa, 19.3., 20.00 Heiliggeist Kirche Bern