Sie begegnen einem in Berghütten und traditionsbewussten Gasthöfen: Männer und Frauen, die zufrieden mit der Sense neben dem Heuhaufen posieren, für immer festgehalten auf Schwarz-Weiss-Fotografien. Wie das tägliche Leben auf dem Land und das Umfeld der Porträtierten ausgesehen hatten, können sich heute die wenigsten vorstellen.
Die Dramatikerin Fabienne Lehmann schaut in ihrem ersten Stück «Totreif» für das Luzerner Theater hinter solche Bilder und leuchtet die Aspekte des Schweizer Landlebens aus, die gern unter den Teppich gekehrt werden.
Im Videogespräch mit dem kulturtipp sagt die 28-Jährige: «Im Geschichtsunterricht in der Schule ging es um Napoleon oder den Zweiten Weltkrieg. Schweizer Geschichte wurde wenig besprochen und wenn, dann vor allem die aus Städten.»
Gastarbeiter, Erntehelfer, Spielkameraden
Lehmann selbst wuchs auf dem Land auf, in einer alten Mühle zwischen Biel und Solothurn. «In meiner Kindheit sassen immer Menschen mit am Tisch, die nicht Teil der Familie waren», erzählt sie. Als Kind freute sie sich über die Spielkameraden, als Teenager ärgerte sie sich darüber, nicht in Ruhe mit ihrer Mutter streiten zu können.
Heute interessiert sie sich für die Rolle dieser Menschen in der Geschichte. Denn ohne ausländische Gastarbeiter, jenische Helfer, Knechte und Mägde wäre die Arbeit nicht zu bewältigen gewesen.
Während ihres Geschichtsstudiums führte Lehmann Interviews mit ihrem Onkel zu seiner Kindheit auf dem Land. Die Erzählungen verwebte sie mit ihrer Recherche zu einem Theatertext, in dem Celio und Michael über ihr Leben auf dem Land sprechen, immer wieder befragt von Celios Tochter Matilda, die mehr über ihre Familiengeschichte erfahren will.
Assoziative Erzählweise, parallele Perspektiven
Die Erzählung findet auf verschiedenen Zeitebenen gleichzeitig statt und zeigt mit abstrakten Mitteln den Umgang mit der Schweizer Geschichte auf. Etwa wenn «Geschichte 1» und «Geschichte 2» miteinander diskutieren, welche Version erzählt werden soll.
Ins Visuelle übersetzt wird diese Gleichzeitigkeit von Regisseur Martin Schulze mit einem «abstrahierten Realismus», wie er sagt. Er wolle ästhetisch sowohl das konkrete Landleben anklingen lassen, als auch die konservierte Vergangenheit zeigen, aus der sich Teile von Matildas Familiengeschichte herauslösen und in die Gegenwart treten.
Fabienne Lehmann springt im Stück hin und her, in einer assoziativen Erzählweise. Die dichte, detailreiche Sprache und die Parallelität der Perspektiven schaffen ein komplexes Bild der bäurischen Vergangenheit, das die schönen Seiten sowie die grausame Realität aufgreift – etwa wenn Matilda beschreibt, wie ihr Vater Katzenbabys ertränkt.
Unterbrochen wird sie von Michael, der erzählt, dass auf dem Hof früher viele Leute gearbeitet haben, «die Dokumente mit einem X unterschrieben», weil sie nicht schreiben konnten – Leute, die heute in Heime geschickt würden. Wenn eine neue Figur erwähnt wird, steht diese bald selbst auf der Bühne und spricht.
Auch das Verbrechen an den Jenischen ist Thema
Eine solche, sehr prägende Figur ist Gödeli, ein Jenischer und gelegentlicher Gast auf Michaels Kindheitshof. Gödeli flicht Weidenkörbe und übernachtet mit einer Flasche saurem Most in der Scheune. Erst im Gefängnis erfährt Gödeli, dass er seiner Familie weggenommen und verdingt wurde, als er ein Kind war.
Die Verfolgung und die Kindswegnahmen, die das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» mit Hilfe der Behörden verübten, wurden kürzlich vom Bundesrat als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» anerkannt.
Lehmann sagt, sie habe ausgehend von den Beschreibungen ihres Onkels Gödelis Biografie weitergedichtet. «Weil ich selbst keine Jenischen kenne, habe ich den Lebenslauf zur Überprüfung der Radgenossenschaft der Landstrasse gezeigt, der Dachorganisation der Jenischen und Sinti der Schweiz.» Die Aufführungen in Luzern werden von einem Rahmenprogramm begleitet, das die jenische Geschichte im Film «Ruäch» und in einer Diskussionsrunde historisch aufgreift.
Totreif
Premiere: Sa, 29.3., 20.00
Luzerner Theater