Gerüstet mit einem Mantel und einem nassen Schirm, eilt Newa Grawit auf die Probebühne, aus den Boxen ertönt rauschender Regen. «Die Versicherungsvertreterin lächelt», beschreibt sie die eigene Szene.
Aus dem Regen wird Hagel, Grawit muss nun rufen, damit man sie versteht: «Denn sie weiss: In diesem Büro webt sie täglich am grossen Teppich, der die Welt ein kleines bisschen berechenbarer macht.»
Grawit betritt das Büro, schüttelt den Schirm aus, setzt sich an ihren Schreibtisch und nimmt das klingelnde Telefon ab. «Origa, Grawit, ich bin für Sie da.»
Versicherungen sind keine trockene Sache
Newa Grawit spielt eine Versicherungsvertreterin, die für die fiktive Versicherungsgesellschaft Origa arbeitet. Sie und Schauspielkollege Manuel Bürgin leihen den Figuren nicht nur den Körper, sondern auch ihre Namen.
«Höhere Gewalt» heisst das Stück, das Maria Ursprung für das Aargauer Theater Marie entwickelt hat. Die Regisseurin sagt, auf den ersten Blick erscheine die Versicherungswelt trocken und nicht besonders theatral. Dieser Schein trüge aber. Die Schweiz ist eine der Nationen, in der die Menschen am meisten Versicherungen haben. «Woher kommt dieses grosse Bedürfnis nach Sicherheit?», fragt Ursprung.
Das sind psychologische, politische und philosophische Fragen, denen die Regisseurin und Autorin mit Interviews in der Versicherungswelt nachgespürt hat. «Die Versicherungen haben viel Macht, trotzdem reden wir nie über sie. Über Banken gibt es Netflix-Serien, Versicherungen hingegen kommen höchstens in ‹Stromberg› als Kulisse vor», sagt sie.
«Man hat den Eindruck, wer stirbt, ist gescheitert»
Grawit ist mittlerweile nicht mehr allein im Büro und auf der Probebühne. Ihr Kollege Manuel Bürgin sitzt am Schreibtisch hinter ihr. Sein Telefon klingelt. «Origa, Bürgin, ich bin für Sie da. Ja, Sie können eine Todesfallversicherung bei mir abschliessen.
Das tut mir leid, eine Todesfallversicherung funktioniert aber anders. Dagegen kann ich Sie leider nicht versichern.» Regisseurin Ursprung unterbricht die Szene: «Super, noch mal von Anfang an. Newa, kannst du ein bisschen positive Überraschung in den Moment reinlegen, wenn der Hagel anfängt? Geht euch das auch so? Wenn es hagelt, ist man irritiert. Aber man freut sich auch immer ein bisschen, weil es etwas Besonderes ist.» Es sind Feinheiten wie diese, welche die Umsetzung von «Höhere Gewalt» interessant machen. Ursprung und ihr Team kitzeln im Stück gekonnt die menschlichen Widersprüche im Umgang mit Risiken und ungeplanten Ereignissen heraus.
Sie schaffen es, anhand eines kleinen, ja popeligen Versicherungsabschlusses die ganz grossen Lebensfragen aufzuwerfen. Gemäss Ursprung fällt es den Menschen in der Schweiz schwer, loszulassen. Aber woran halten wir eigentlich fest? «Am Leben», glaubt sie. «Bei all dem Optimierungswahn, den Einfrierungsfanta sien und den Absicherungen hat man mittlerweile den Eindruck, wer sterbe, sei gescheitert.» Aber die Versicherungen profitierten von einem Denkfehler, so Ursprung. «Wer sie abschliesst, erkauft sich das Gefühl, dass nichts passieren wird.
Doch verhindert werden nicht Ereignisse, sondern monetäre Schäden.» Ausserdem seien es doch die unvorhergesehenen Momente, in denen Menschen sich lebendig fühlten; bei Geburten, Todesfällen oder wenn ihnen in den Ferien der Koffer abhandenkommt.
Ein Konzept der Solidarität
Doch Ursprung sieht im Versicherungskonzept auch Positives. «Natürlich macht es das Leben einfacher, wenn man einen finanziellen Verlust absichern kann.» Das Preisschild macht ein Risiko handelbar – und hilft, damit umzugehen.
«Der Gedanke, dass sich fremde Menschen – eine anonyme Masse – entschieden haben, füreinander einzustehen, berührt mich. Das ist eine grosse kulturelle Errungenschaft. Wenn die Versicherungsgesellschaften nur nicht dermassen profitorientiert wären!» Zurück auf der Probebühne.
«Origa, hier ist Grawit, ich bin für Sie da. Das Ferienhaus, ja, das läuft über uns. Der Gletscher. Und wie schnell wächst dieser Gletscher in Ihren Garten? Das verstehe ich, das ist unangenehm, ich melde mich wieder.»
Das Preisschild des Klimarisikos
Die Versicherungen senken gemeinhin das Risiko. Denn der Blick auf den Preis, also auf die Prämie, motiviert die Menschen, das Risiko präventiv zu senken. Doch beim Klima scheint diese Logik nicht aufzugehen.
Dort verhalten sie sich nicht risikokonform. Ursprung sagt: «Eigentlich wären die Versicherungen ein Hebel, um den Klimawandel anzugehen und fassbar zu machen. Doch sie setzen ihre Zahlen am 1. Januar auf null, es ist ein kurzfristig orientierter Markt, und das Klima verändert sich langsam.»
Ein anderes Problem ist wohl die Kalkulierbarkeit der sehr komplexen klimatischen Veränderungen. Und was als unberechenbar gilt, läuft in der Versicherungswelt unter «Höhere Gewalt».
Maria Ursprung hofft, dass ihr Stück auch Personen aus der Versicherungswelt in die Theater lockt. «Und vielleicht machen wir Mut, sich der Prävention anzunehmen, statt sich nur gegen mögliche Klimarisiken zu versichern.»
HöhereGewalt
Premiere: Mi, 16.10., 20.00
Alte Reithalle Aarau
Ab Do, 23.1.2025, 20.00
Kellertheater Winterthur ZH
Sa, 1.2.2025, 20.00
Zeughaus Kultur Brig VS
Ab Mi, 14.5.2025, 20.00
Kulturmarkt Zürich
Ab Di, 28.10.25, 19.30
Kurtheater Baden AG