Wenn plötzlich eine Herde schnaubender Nashörner durch einen beschaulichen Ort trampelt, hängt der Stadtsegen gründlich schief. Umso mehr, wenn die Dickhäuter vormals normale Menschen waren. Im Stück «Die Nashörner» des rumänisch-französischen Dramatikers Eugène Ionesco (1909–1994) beobachtet der sensible Einzelgänger Behringer (Fredi Stettler) die unerklärliche Verwandlung seiner Nachbarn und Kollegen mit zunehmender Sorge. Einer nach dem andern wird vom Sog erfasst – Arbeiter und Akademiker, Freund und Feind. Alle mutieren zur grauen Kreatur.
Wutschnaubend
Als seinem Freund Hans (Markus Maria Enggist) vor seinen Augen ein Horn aus der Stirn wächst und sich dieser in ein wutschnaubendes Biest verwandelt, wird ihm endgültig angst und bange.
Beim Probenbesuch im Berner Theater Matte sind die Nashörner im 3. Akt bereits in der Überzahl: Albträume plagen Behringer. Zu gross ist die Furcht, dass er selbst zum verblödeten Herdentier wird. Damit ihm kein Horn wächst, hat er sich einen Kopfverband zugelegt. Nur noch seine Geliebte Daisy (Corinne Thalmann) hält zu ihm.
Ein Handy-Klingelton durchbricht die romantische Zweisamkeit: Am anderen Ende der Leitung ist ein bedrohliches Schnauben zu hören. Daisy erschrickt so sehr, dass sie die Beschwichtigungen ihres Liebsten gar nicht mehr hört. «Villech sy mir die Abnormale», sagt sie zu Behringer. Und plötzlich erscheinen ihr die dumpfen Dickhäuter in einem andern Licht: kraftvoll, schön, mächtig. Daisy erliegt der Faszination – und Behringer verliert auch seine grosse Liebe an die Herde und steht ganz alleine da.
Ionescos Stück von 1957 wandelt sich von der leichtfüssigen Komödie zur Tragödie und wird dem absurden Theater zugeordnet. Die Berner Regisseurin Livia Anne Richard betont aber: «Nicht sein Theater ist absurd, sondern die Welt und die Menschen. Ionesco hat sie sehr gut beobachtet und hält ihnen einen Spiegel vor.» Der Text des Autors, der 1938 vor einem repressiven Regime in Rumänien nach Frankreich geflohen war, wurde oft als Parabel auf den menschlichen Herdentrieb, auf Opportunisten und Mitläufer in totalitären Systemen verstanden. Das Stück wurde etwa als Reaktion auf den Nationalsozialismus gedeutet. Der Autor selbst betonte immer, dass es eine generelle Kritik an Massenbewegungen sei.
Livia Anne Richard nimmt diesen Gedanken auf und versetzt das Stück in die heutige Zeit: «Massenbewegungen – von rechts oder links – werden immer extremer. Die Tendenz, blindlings hinterher zu trampeln und das Hirn auszuschalten, nimmt zu.» Die Regisseurin möchte, dass das Publikum die Sogkraft solcher Bewegungen hautnah miterlebt. Ihre Inszenierung verhandelt zudem das digitale Zeitalter: Sobald wieder ein Nashorn auftaucht, wird das Ereignis auf Facebook gepostet oder über Twitter verbreitet. «Es geht um die virtuelle Herde. Um dazuzugehören, hat heute jeder ein Handy und ein Facebook-Profil.»
Subtile Verwandlung
Die Verwandlung der Menschen in Nashörner passiert in ihrer Inszenierung subtil: Einziger Indikator ist die Musik von Hank Shizzoe. «Die Nashörner werden mit Schlagzeug und Gitarre dargestellt mit heftigen, fast metal-mässigen Klängen», erklärt der Berner Musiker, der mit Drummer Simon Baumann live auf der Gurten-Bühne stehen wird. Auf konkrete Tiergeräusche verzichtet er, die metaphorische Verwandlung wird einzig durch die bedrohliche Musikkulisse dargestellt. Stilistisch ebenso schlicht ist das Bühnenbild von Fredi Stettler, der auch in der Hauptrolle zu sehen ist. Die schwarze Bühne steht in Schräglage, 14 weisse Würfel fungieren in unterschiedlichen Funktionen – als Sofa, Bett oder Sitzungszimmer.
«Dichter und stärker»
Risiko-Faktor bleibt das Wetter. Beim regnerischen Probenbesuch hat sich die Schauspieltruppe ins Theater Matte verzogen. Bei den Aufführungen gilt es aber ernst: Die Bühne und die Sitzplätze auf dem Gurten sind nicht überdacht. «Ich mag diese Unsicherheit und das Spielen in der Natur», sagt die Regisseurin. «Auf der Gurten-Bühne kann man sich eine andere Welt erbauen als in einem geschlossenen Raum. Theater kann draussen stärker, emotionaler und dichter wirken: Wenn ein Schauspieler in den weiten Himmel schaut, erzeugt das eine andere Wirkung, als wenn er so tut als ob.»
Den Himmel anrufen werden nicht nur die Schauspieler mit ihrem Stossgebet für gutes Wetter, sondern auch die Hauptfigur Behringer. Livia Anne Richard hat Ionescos Schluss abgewandelt: Bei ihr zückt der Pazifist nicht die Waffe, sondern ruft das Universum um Beistand an, wenn er die Nashörner zur Umkehr bewegen will.
Anti-Nashörner gesucht
Zurzeit sucht die Schauspiel-Truppe nach Anti-Nashörnern unserer Zeit – nach Menschen, die sich in irgendeiner Weise einer Massenbewegung widersetzen. Aus den Geschichten, die dem Theater per Mail oder Brief zugesandt werden können, wählt das Team die besten aus und lädt diese Anti-Nashörner zur Vorpremiere ein.
Die Nashörner
Premiere: Do, 23.6., 20.30 Gurten Bern
www.theatergurten.ch
Freilicht-Spektakel mit Feuer, Rauch und Akrobatik
Freilichtbühnen kommen beim Publikum meist gut an: Aufwendig produzierte Grossproduktionen wie die Walensee-Bühne, aber oft auch lokale (Laien-)Produktionen mit Stücken und Schauspielern aus der Region sorgen – sofern das Wetter mitspielt – für volle Ränge. Die mit Abstand erfolgreichste Truppe ist jedes Jahr dieselbe: Karl’s kühne Gassenschau, die 1984 als kleines Strassenvariété entstanden ist. Für die 22. Produktion wurden bereits über 90 000 Tickets verkauft. Inzwischen ist die Spielzeit verlängert, letzte Karten sind im Vorverkauf erhältlich. Das artistische Freilicht-Spektakel «Sektor 1» geht wieder in einer Industriebrache bei Winterthur über die Bühne. Das Stück erzählt eine Geschichte aus der Zukunft, in der die Menschen nur mit strengen Regeln und harter Disziplin die Welt vor dem Untergang retten können. Wer sich wehrt, wird bestraft. Und wer sich daran hält, hat Aussichten auf einen Platz im Sektor 1, der Natur-Oase der Zukunft. Und doch gibt es ein paar wenige, die sich gegen die Bevormundung wehren und den Kopf nicht in den Sand stecken. Schauspieler, Musiker, Stuntmen und Pyrotechniker sorgen für ein abenteuerliches Spektakel mit Feuer und Rauch, gigantischen Maschinenkonstruktionen, halsbrecherischen Stunts und Live-Musik.
Sektor 1
Karl’s kühne Gassenschau Winterthur
Do, 16.6.–Sa, 15.10.
Der Freilichtbühnen-Sommer: Eine Auswahl an Vorstellungen finden Sie im PDF dieses Artikels.