Acht Schauspieler sitzen summend an einem langen Holztisch. Jemand stellt eine Urne auf den Tisch. Hinter ihnen thront das Gemälde eines ernst dreinschauenden Mannes: Doktor Watzenreuther, der verstorbene Patron.
Das Summen wird zu inbrünstigem Gesang, die Münder der Darstellerinnen sind grotesk weit geöffnet, als wären sie bei der Zahnärztin und nicht auf einer Theaterbühne. «Wo ist Ihre bessere Hälfte?», fragt jemand. «In der Panzerfettkur.» – «Welche meinen Sie?» – «Fragen Sie meine bessere Hüfte.» Die Antworten werden immer absurder. Irgendwann dreht sich das Gespräch um Konservendosen im Keller.
Eine absurde Tischgemeinschaft
Wir befinden uns in der Probe zu «Doktor Watzenreuthers Vermächtnis – Ein Wunschdenkfehler». Regisseur Christoph Marthaler entwickelt das Stück gemeinsam mit Dramaturg Timon Jansen und dem Basler Ensemble. Als das Theater ihn anfragte, die Saison zu eröffnen, lehnte Marthaler zunächst ab. Die Idee von einem langen Tisch auf der Bühne überzeugte ihn jedoch. «Das ist das Langweiligste im Theater überhaupt», sagt der 72-Jährige beim Gespräch nach der Probe begeistert.
«Wir haben uns vorgestellt, was daran alles stattfinden könnte: eine Verwaltungsratssitzung oder eine Familienfeier oder etwas anderes. Alles verwebt und vermischt sich zu einer absurden Vereinigung.» Jansen sagt: «Es ist spannend, auszuprobieren, was in dieser Schicksalsgemeinschaft steckt, was sie zusammenhält.»
Marthaler ergänzt: «Mich interessiert immer, was die Leute wirklich denken. Bei vielen Leuten, vor allem in der Politik, weiss man das heute aber gar nicht mehr. Da sind nur noch Floskeln.»
Ueli Jäggi rümpft seine grosse Nase
«Wir haben den Status quo sorgfältig geprüft.» – «Wir sind nicht auf dem Holzweg.» – «Wir geben unseren Senf dazu.» Immer wieder gibt die Tischgesellschaft wichtig klingende Sätze von sich. Deren fehlende Bedeutung verleiht der Situation etwas Widersinniges. Jansen: «Im Gegensatz zu den dadaistischen Autorinnen und Autoren, die ihre Texte mit einem bewussten Ausdruck geschrieben haben, werden die Plattitüden unbewusst dahergesagt.
Die hören sich selbst gar nicht zu.» Auch wenn die gut betuchten Figuren auf der Bühne an Erben und Firmenräte der Oberschicht erinnern, steckt in ihrem automatisierten Umgang miteinander eine Gewohnheit, die tief in die Schweizer Seele vorgedrungen ist.
Diese gegenseitige Lähmung wird auch im Gesang des Ensembles deutlich. Er wiederholt sich chorisch, dreht leicht abgeändert Schlaufen und findet doch nicht richtig zusammen. «In der Umständlichkeit hat das schon etwas Schweizerisches», sagt Christoph Marthaler. «Aber es ist auch ein allgemeiner Zustand in Europa», so Timon Jansen.
Auf der Bühne erinnern die omnipräsenten Urnen ständig an den Tod, den möglichen Zerfall dieses Zustands. Mitten im Gespräch klingelt Marthalers Handy. Es ist die Maskenbildnerin: «Uelis Nase ist fertig.»
Also gehen wir in die Maske, um den grossen Kolben in dem völlig veränderten Gesicht von Ueli Jäggi zu bestaunen. «Ich kann sie rümpfen und alles», sagt dieser glücklich und macht es sogleich zur Belustigung aller vor. «Am liebsten bin ich in der Maske und in den Werkstätten», sagt Marthaler auf dem Rückweg in die Kantine.
Dieses Theaterstück ist auch ein Konzert
Auf der Probebühne stimmt die mittlerweile schlafende Gemeinschaft ein Lied an, dazu zupft Nadja Reich sanft am Cello. Dann wechselt sie zu einem zackigen Streichspiel, wird immer lauter und fordernder. Die anderen wachen auf, murmeln verwirrt vor sich hin. Reich lacht und wird aus dem Raum komplimentiert.
Marthaler sagt, er habe unbedingt mit Nadja Reich arbeiten wollen. Die freie Cellistin tourt auf internationalen klassischen und zeitgenössischen Festivals, improvisiert gerne und hat schon früher mit Marthaler gearbeitet. Der überraschende Umgang mit Zeit und Rhythmus ist in seinen Stücken oft Thema.
Die Cellopassagen dürften jedoch nicht gekürzt werden. «Zu oft habe ich als Theatermusiker erlebt, wie die Regisseure am Schluss nervös werden und die Musik zusammenstreichen. Das ist schrecklich!» Marthaler versteht «Doktor Watzenreuther» auch als Konzert und will dem Cello deshalb genug Platz geben.
Reich spielt im Stück eine Art Nichte oder Cousine. Sie passt nicht in diese Gemeinschaft, drückt als Einzige mit ihrer Musik aus, was sie denkt. Sie ist der Hoffnungsschimmer auf eine Veränderung dieser grotesk statischen Welt.
Die Szenen sollen sich organisch entwickeln
Auf der Probebühne werden nun Bilder von Jesu Abendmahl verteilt. Die Positionen der Jünger sollen die Schauspieler inspirieren. «Aber nicht zu viel, nicht zu deutlich», sagt Christoph Marthaler und nimmt einen Schluck aus seiner Dose mit alkoholfreiem Bier. Subtil muss es bei ihm sein, eine Assoziation darf passieren, soll aber nie aufgezwungen werden. Auch die Szenen und die Texte sollen sich organisch entwickeln, anstatt einem strikten Probenplan zu folgen.
Das braucht Flexibilität und Vertrauen von allen Beteiligten. Zum Glück sind viele im Team alte Bekannte. Marthaler ist sich bewusst, dass eine so freie Entwicklung auch ein Risiko darstellt. «Es ist eine Gratwanderung», sagt er. «Sie kann gelingen oder völlig danebengehen. Aber wenn ich den Erfolgsuche, bleibt er sowieso aus.»Trotzdem: In drei Wochen ist Premiere, und noch ist unklar, wie das Stück endet. Jansen sagt: «Wir müssen uns jetzt fragen: Wie lange hält die Gemeinschaft?» Marthaler fügt an: «Wir sind auch gespannt.»
Doktor Watzenreuthers Vermächtnis – Ein Wunschdenkfehler
Premiere: Fr, 13.9., 19.30
Theater Basel