«Das Krankheitsbild verlangt Tapetenwechsel», sagt Schauspielerin Julia Jentsch als Sigmund Freud. Dann spricht sie plötzlich zwei Meter daneben: «Möblierte Zimmer gibt es auch in Genf.»
Dann wieder von woanders: «Die Patientin muss viel weiter weg, nach Osten, heimwärts.» Dieses innere Streitgespräch, das bisher nur auf einem Laptop existiert, ist Teil der Inszenierung «Doktor Spielrein», die bald im Zürcher Schiffbau startet.
Jung unterschlug Spielreins Arbeitsanteil
Das Stück basiert auf einer historischen Figur: der angehenden Ärztin Sabina Spielrein, die 1904 bei einem Besuch in Zürich in die psychiatrische Klinik Burghölzli eingewiesen wurde. Die Diagnose: Hysterie.
Ihr behandelnder Arzt C.G. Jung verliebte sich in sie, und die beiden leisteten gemeinsam Pionierarbeit in der Psychoanalyse. Später wandte Jung sich von ihr ab und unterschlug ihren Arbeitsanteil. Die Jüdin kehrte nach Russland heim und wurde 1942 von deutschen Soldaten erschossen.
Regisseur Bernhard Mikeska sagt: «Wir haben viel zu Sabina Spielreins Leben recherchiert, erzählen es davon ausgehend auch mit fantastischen Elementen weiter.» Im Schiffbau sucht Spielrein C.G. Jung heim und konfrontiert ihn mit seiner nie aufgelösten Therapie und dem intellektuellen Diebstahl.
Mikeskas Kollektiv Raum und Zeit ist auf den Einsatz von Vir tualReality-Brillen im Theater spezialisiert. Virtuelle Realität? Spätestens seit der Pandemie taucht diese Technik immer wieder auf Theaterbühnen auf. Doch wie funktionieren diese Brillen eigentlich? Und was haben sie auf einer Bühne zu suchen?
Axel Vogelsang und Dario Lanfranconi forschen an der Hochschule Luzern zum Thema visuelles Erzählen. 2022 begleiteten sie das erste digitale Theaterfestival der Schweiz im Kleintheater Luzern. Das kleine Haus ist in der Schweiz Vorreiter in Sachen Virtuelle Realität (VR).
Im Dezember ist dort etwa das Düsseldorfer Online-Stück «Hacking the Manosphere» zu sehen, das sich mit männlicher Radikalisierung auf der Plattform Tiktok befasst.
Der Zuschauer ist Teil der Geschichte
Dario Lanfranconi erklärt: «Bei VR ist das ganze Gesichtsfeld mit digitalen Informationen ausgefüllt. Die Brille spielt innen einen Film ab und hat aussen Kameras. So wird die reale Bewegung eines Zuschauers in den digitalen Film übertragen und die Illusion von digitaler oder eben virtueller Realität kreiert.
Es sei jedoch wichtig zu verstehen, dass VR ein Spektrum ist, so Lanfranconi. «Neben VR, in der man sich bewegen kann, gibt es auch 360-Grad-Filme, die in alle Richtungen einen Film abspielen, bei dem man als Zuschauer eine fixe Position hat und nicht interagieren kann.
Dann gibt es ‹Mixed› oder ‹Augmented Reality›, bei der etwa eine virtuelle Figur in die Aufnahme einer realen Umgebung gesetzt wird.» So funktioniert etwa das «Pokemon Go»-Spiel, das sich vor einigen Jahren grosser Beliebtheit erfreute. Laut Axel Vogelsang ermöglicht VR die radikale Abschaffung der vierten Wand. Dank der Brille gibt es keine Bühne und keinen Zuschauerraum mehr.
Der Zuschauer ist Teil der Geschichte, die um ihn herum geschieht. «VR-Theater ist noch in der Experimentierphase. Es gibt gelungene und weniger gelungene Experimente», sagt Vogelsang. Entscheidend sei der Übergang zwischen wirklicher und virtueller Realität. «Wenn dieser keinen Sinn macht, kann man wenig aus einem VR-Erlebnis mitnehmen.»
Der Zürcher Schiffbau arbeitet mit einem 360-Grad-Film. Der Zuschauer kann dem Geschehen in alle Richtungen folgen, seine Position darin jedoch nicht ändern. In 70 Minuten sieht er drei VR-Filme und wird von einer Hilfsperson durch drei Live-Räume geführt, in denen er die Brille abnimmt und dem Geschehen «natürlich» folgt.
Inszenierung mit traumartiger Ästhetik
Der Theaterbesuch findet allein statt. Der Unterschied zwischen virtueller und echter Realität wird durch eine traumartige Ästhetik in beiden Welten verwischt. «Wenn man die Brille abnimmt, ist nicht klar, ob man aus einem Traum aufwacht oder auf einer tieferen Ebene gelandet ist», sagt Mikeska.
Auch der Ton soll das Unbewusste beim Zuschauer ansprechen. Die Inszenierung spielt mit der Verortung der Tonquelle, lässt etwa eine Hintergrundmusik plötzlich aus einer bestimmten Ecke kommen. Das bricht mit den Hörund Sehgewohnheiten und schafft eine surreale Atmosphäre.
Die ersten Vorstellungen für «Doktor Spielrein» sind schon ausverkauft. Im Oktober und AKTUELL Virtuelle Realität: Das Theater kollektiv Raum und Zeit ist auf den Einsatz von VR-Brillen spezialisiert HEINZ HOL ZM A NN Anfang November werden jedoch weitere Slots aufgeschaltet.
Trotz der Beliebtheit lohnt sich so ein VR-Stück für ein grosses Theaterhaus finanziell kaum, weil der Aufwand pro Zuschauer hoch ist. Axel Vogelsang glaubt auch nicht, dass VR das klassische Spiel auf lange Sicht verdrängen wird. «Eher wird der Medienraum erweitert.» In den nächsten Jahren werde die Brille wahrscheinlich kleiner.
«Vielleicht genügen irgendwann Augenlinsen. Oder wir haben in ferner Zukunft einen implantierten Chip, der die Illusion direkt im Hirn erzeugt.» Ob das realistisch oder wünschbar ist, sei jedoch fraglich.
Lanfranconi fügt hinzu: «Es gibt übrigens auch Experten, die davon ausgehen, dass der Einsatz von VR sich nicht durchsetzt und wieder ganz verschwindet. Alles ist möglich.»
Doktor Spielrein
Premiere: Mi, 23.10., 17.36
Schiffbau Zürich
Myke – Hacking the Manosphere
Gastspiel: Do, 5.12., 20.00
Kleintheater Luzern