«Schauen Sie nach links. Schauen Sie nach rechts. Eine von uns …» Tessa Enslers Stimme bricht ab. Die erfolgreiche Strafverteidigerin sass unzählige Male selbstsicher auf der anderen Seite, befragte Zeuginnen und Zeugen, bis sich eine Ungereimtheit auftat.
Nun wurde sie selbst Opfer einer Vergewaltigung und sieht das System von einer neuen Seite. Ein System, das bei Vier-Augen-Delikten glaubwürdige, kohärente Aussagen fordert. Sonst gilt: Im Zweifel für den Angeklagten. Doch Erinnerungen an traumatische Ereignisse sind selten kohärent.
Nur zwei von zehn Delikten werden angezeigt
Genau in diese Lücke des Justizsystems legt Autorin Suzie Miller mit «Prima Facie» ihren Finger. Vor fünf Jahren feierte ihr Stück in Australien Premiere, 2022 folgten Inszenierungen in London und New York.
Letztes Jahr eroberte «Prima Facie» die deutschsprachigen Spielhäuser von Berlin bis Graz. In der Schweiz wurde es einzig vom Berner Effinger-Theater inszeniert. Doch diesen Spätherbst rollt die «Prima Facie»-Welle auch über uns hinweg. Das Luzerner Theater, das Kurtheater Baden und das Zürcher Schauspielhaus zeigen das Stück je in einer eigenen Version.
Warum das Thema so drängt, wird schnell klar: Die Hauptfigur Tessa Ensler bittet den Gerichtssaal nicht grundlos darum, nach links und rechts zu schauen. Gemäss einer europaweiten Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) hat jede dritte Frau bereits körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren.
In der Schweiz erlebte laut Amnesty International jede fünfte Frau einen sexuellen Übergriff und jede zehnte ungewollten Geschlechtsverkehr. Nur zwei von zehn Delikten werden angezeigt und nur ein Fünftel der Angeklagten verurteilt.
Für das Zürcher Schauspielhaus inszeniert die freischaffende Theatermacherin Barbara Weber. Auf der Probebühne im Zeughaus ist ein grosses, zerwühltes Bett zu sehen. Alicia Aumüller sitzt in adretter pinker Bluse und Anzughose als Hauptfigur Tessa Ensler am Laptop. Sie erzählt von ihrer Studentenzeit in Cambridge, als sie sich zwischen den Ärztesöhnen und Anwaltstöchtern behaupten musste. Ihre Mutter ist Putzfrau, und Tessa wird das Gefühl nicht los, hier nicht dazuzugehören, zur künftigen Elite.
Mit dem Zuklappen ihres Laptops endet die Erinnerung. Sie ist jetzt auf einer Feierabendparty. «Ich wische Julians Hände weg, die über meinen Körper wandern», sagt sie tanzend. Sie bewundert den Anwaltskollegen Julian, geniesst seine Aufmerksamkeit. Dann liegt Tessa im Bett. «Bewege dich schneller, fast forward, mit wechselnden Positionen», ruft Barbara Weber auf die Probebühne. «Sodass man nicht weiss: Ist das eine Rückblende ins Trauma oder die versoffene Nacht?»
Der Übergriff erfolgt im Bett
Einige Tage nach der Party landen Tessa und Julian betrunken in ihrem Londoner Appartement und haben einvernehmlichen Sex. Doch in der Nacht muss Tessa sich übergeben, Julian wird wach und will wieder mit ihr schlafen. Tessa lehnt ab, sie fühlt sich eklig. Doch Julian hört nicht auf, vergewaltigt sie.
Barbara Weber sagt: «Ich finde es gut, dass Suzie Miller den Fall so gewählt hat. Weil Vergewaltigungen eben oft solche Vieraugendelikte sind. Die Situation ist klar, wenn ein Unbekannter aus dem Busch springt. Aber wenn der Täter ein Freund, Date oder gar der Ehemann ist, ist die Straftat schwer zu beweisen.»
Auf der Bühne des Luzerner Theaters spielen im Gegensatz zu Zürich und Baden zwei Frauen statt nur eine. Schauspielerin Annina Hunziker wird von der Sängerin Evelinn Trouble mit Livemusik unterstützt. Regisseurin Rebekka David sagt: «Es ist mir wichtig, dass die Schauspielerin mit diesem Thema nicht allein auf der Bühne steht.» In Davids Version von «Prima Facie» werden Tessa Enslers Besuche in ihrer Heimatstadt ausserhalb Londons mit Videoaufnahmen aus einem finanzschwachen Quartier in Luzern untermalt.
Auch ein Thema für den «alten weissen Mann»
In den Zürcher Pfauen passen 750 Zuschauer, in die Box in Luzern etwa 150. Das Kurtheater Baden skaliert nochmals kleiner. Im neuen Foyer im fünften Stock gibt es nur 48 Sitzplätze. Regisseur Klaus Hemmerle sagt: «Es ist ein entrückter, intimer Ort.»
Deshalb setzen er und die künstlerische Mitarbeiterin Elena Thoma auf eine persönliche Inszenierung mit reduziertem Bühnenbild und nur wenigen Requisiten. «Die Roben und all das englische Gerichtstheater haben wir gestrichen. In der Schweiz ist das Rechtssystem unaufgeregter», sagt Thoma.
Hemmerle begrüsst es, dass das Kurtheater ihn als «alten weissen Mann» mit diesem Stück beauftragt hat. «So wie nicht nur schwule Schauspieler schwule Männer spielen können, sollten nicht nur Frauen dieses Stück inszenieren.» Gerade er als Mann müsse sich damit auseinandersetzen, findet Hemmerle. «Denn das Thema aus einer männlichen Perspektive zu begreifen, ist nicht nur ein intellektueller, sondern vor allem auch ein emotionaler Vorgang, den das Theater gut vermitteln kann.»
Rebekka David sieht das ähnlich. «Ich habe mich im Theater schon mehrfach mit Sexismus befasst. Und oft sagen mir Männer, es sei gut, dass ich das Thema behandle, weil sie dazu nichts sagen könnten. Das will ich nicht mehr hören.» David wünscht sich, dass jede Zuschauerin ihren Bruder, Vater oder Freund mitnimmt. «Das wird kein Abend von Frauen für Frauen.»
Prima Facie
Premiere: Sa, 9.11., 20.00
Luzerner Theater
Premiere: Sa, 16.11., 20.00
Schauspielhaus Zürich
Premiere: Di, 10.12., 20.00
Kurtheater Baden AG