Suhr also, ein Vorort von Aarau und vielleicht einer der gesichtslosesten Flecken der Schweiz, weil es hier ausser Beton und Strassen nicht viel gibt. Aber dann, hinter der Hauptkreuzung beim Bahnhof, wo noch eine dieser längst überholt geglaubten Fussgängerunterführungen steht, taucht das alte Kino Central auf. Hier hat sich das umtriebige Theater Marie seit Längerem mit seiner Probebühne installiert, und probeweise sieht das auch aus, was man im Kinosaal mit seinen roten Polstersesseln antrifft: links auf der ausladenden Bühne ein Musiksammelsurium (wobei man rätseln kann: Ist das noch Schlaginstrument oder schon Campingkocher?), allenthalben bunte Schlafsäcke, Stühle und Hüte, eine Videoprojektion, zuvorderst ein Stein

Einem Stein das ABC beibringen

«Stein sein» heisst auch das Stück, das geprobt wird. Es geht um die Verbindung mit der Natur, wobei das Projekt alles andere als fertig ist. «Wir sind noch voll im Ausprobiermodus», bestätigt Regisseur Manuel Bürgin. «Aber unser Stück hat viel mit Warten zu tun. Dieses Grundgefühl des Sich-Zeit-Lassens soll sich auch auf unser Publikum übertragen.»

Also sprechen die Darstellerinnen Chantal Dubs und Vivianne Mösli erstmal auf diesen kleinen Brocken ein, um ihm versuchsweise das ABC beizubringen, während Dominik Blumer über ein waagrecht stehendes Saiteninstrument streicht. «Wir entdeckten diese Geschichte in einer von Annie Dillards Erzählungen. Sie ist eine von vielen Nature-Writing-Autorinnen, von denen wir uns inspirieren liessen», sagt Bürgin. «Den Stein fanden wir übrigens hinter dem Haus.» Sprechen kann er leider noch nicht.

Hat das Ganze etwas mit der aktuellen Klimakrise zu tun? «Eine zentrale Frage», sagt der Regisseur, «auch für uns. Aber wir entschieden uns gegen einen erneuten Mahnfinger in Richtung Apokalypse. Stattdessen geht es uns um eine geschärfte Wahrnehmung unserer Umwelt und darum, zu sehen, was wir damit verlieren würden». «Aaah, aaah, aaah!!» Aus den Schauspielerinnen Chantal Dubs, Vivianne Mösli und dem Musiker Dominik Blumer seufzt und schallt es unisono, während sie in Schlafsäcken aufeinander zuhüpfen.

Es geht jetzt um das Geruchsempfinden eines Monarchfalters, der im Hintergrund auf einer Videoprojektion zu sehen ist, während zugleich Texte über eine Leinwand laufen. Dann wiederum denkt sich das Ensemble «60 Sekunden in das Gehirn eines Wiesels hinein»

Den dramaturgischen Bogen entwerfen sie noch

Hat es funktioniert? Das Team berät sich, kniend, liegend auf der Bühne. «Wie sollen wir Lichtgeschwindigkeit im All darstellen?» Gute Frage. Später sagt Bürgin: «Unser Stück soll auch eine Befreiung sein, weil wir bewusst keine vorgegebene Textvorlage verwenden. Gleichzeitig schwingt immer ein Risiko mit, weil es noch keinen dramaturgischen Bogen gibt, sondern wir diesen erst entwerfen müssen.

Es ist wie beim Fischen. Umso wertvoller, wenn man etwas fängt.» Natur pur, an einem der unwirtlichsten Orte der Schweiz. Draussen rauschen die Autos vorbei. Der Stein schweigt noch immer.

Stein sein
Premiere: Mi, 20.9., 20.00
Tuchlaube Aarau
Tournee: www.theatermarie.ch