«Pergoletti-Spaghetti» habe man sie früher genannt, erzählt Grazia Pergoletti im schwarzen Kleid und in Stöckelschuhen. «Aber das war für mich keine Beleidigung. Spaghetti mag doch jeder.» Auf Italienisch und Deutsch erzählt sie auf der Probenbühne vom italienisch-schweizerischen Haushalt in der engen Wohnung. Immer wieder werden Pergolettis Erzählungen zu Szenen, in denen sie sich selbst und Vera von Gunten alle anderen Rollen spielt. Etwa die Schweizer Mutter, die mit der Grossmutter telefoniert.
«Nein, Grazia muss zurück, wenn die Initiative angenommen wird, sie hat doch keinen Schweizer Pass», sagt sie. «Wenn wir wenigstens abstimmen könnten. Aber uns Frauen fragt ja niemand.» Das Stück «Schwarzenbach – Le dolci vite», das hier geprobt wird, befasst sich autofiktional mit der «Überfremdungsinitiative». Lanciert hatte sie der Zürcher Nationalrat James Schwarzenbach. Mit 54 Prozent wurde die Vorlage 1970 von den damals ausschliesslich männlichen Stimmbürgern nur knapp abgelehnt. Pergoletti und von Gunten entwickeln die Szenen gemeinsam.
Marcel Schwald nimmt den Aussenblick ein und gibt Rückmeldungen. Die Szenen aus Pergolettis Kindheit sind lustvoll und mit viel Humor nachgestellt: «Ich will auch nach Italien», heult etwa Pergolettis Schulfreundin vor den Sommerferien. «Aber meine Eltern wollen schon wieder in die Berge, zum Wandern!» Den letzten Nachsatz stösst sie aus, als wäre er ihr Todesurteil. Pergoletti sagt mitleidig: «In Italien kann ich jeden Tag im Meer baden, und sie muss durch den Nieselregen stapfen.»
Dieser Kontrast zwischen dem Sehnsuchtsort Italien und der Ausgrenzung, unter der Gastarbeiter aus Italien und ihre Familien in den 1960ern litten, zieht sich durch das ganze Stück. In Pergolettis Kindheit platzt die Schwarzenbach-Initiative hinein «wie eine dunkle Wolke aus heiterem Himmel».
Der gute Geist im Glitzerkleidchen
Als Gegenpart zu Schwarzenbach tritt im Stück die Schauspielerin und Sängerin Raffaella Carrà (ebenfalls gespielt von Vera von Gunten) auf. Die echte Carrà moderierte damals im Schweizer Fernsehen die Sendung «Un’ hora per voi», die in den 1970er-Jahren etwas Heimat in die Wohnzimmer der italienischen Diaspora brachte.
Im Theaterstück steht sie für den zweiten Teil des Titels «Le dolci vite» und ist so etwas wie ein guter Geist, der Pergoletti im Glitzerkleidchen und immer gut gelaunt einen Schubs in die richtige Richtung gibt. Sie fragt: «Hast du dich nie gefragt, wie dein Leben ausgesehen hätte, wenn die Weichen anders gestellt worden wären?»
Viele fremdenfeindliche Initiativen folgten
Marcel Schwald ruft: «Frag mal auf Italienisch!» Vera von Gunten wechselt die Sprache und hängt ein ungläubiges «Madonna, perché?!?» dran. «Geh los, finde es raus. Stell dich dem Monster unter dem Bett deiner Kindheit!» Das Stück ist halb biografisch und halb fiktiv. Die Kindheitserinnerungen von Pergoletti sind wahr, die Suche nach dem alternativen Lebensverlauf ist fantastisch-verspielt.
Pergoletti sagt: «Meine Figur ist wie ein Don Quijote, der ein bisschen verrückt loszieht, um eine unmögliche Frage zu beantworten, und dabei vielleicht etwas anderes über sich lernt.» Die Schauspielerin ist für die Recherche aber tatsächlich nach Assisi gereist, dem Geburtsort ihres Vaters. Dort befragte sie verschiedene Frauen, deren Geschichten nun auf der Bühne als mögliche Lebensläufe von Pergoletti zu sehen sind.
Da ist etwa eine Barkeeperin, in deren Rolle von Gunten nahtlos geschlüpft ist. Sie sei nie aus Assisi rausgekommen, aber die Welt sei zu ihr gekommen, sagt sie. Sie schwärmt von einem berühmten Schauspieler, der die Bar besucht habe. «Dieser Ausdruck!» Pergoletti nimmt eine kitschige Jesusstatue in die Hand und bestätigt: «Dieser Ausdruck!» Sie habe 14 Frauen interviewt, sagt Pergoletti. «Bei allen kam irgendwann das Thema der Selbstbestimmung als Frau auf.»
Die Rolle in der Familie und ökonomische Notwendigkeiten zwangen die Frauen, schon in jungen Jahren zu arbeiten. Diese Fremdbestimmung spiegelt sich auch in der Schwarzenbach-Abstimmung. «Das Schlimmste ist, dass diese Initiative nur der Auftakt vieler fremdenfeindlicher Abstimmungen war», sagt Pergoletti. Das Feindbild habe sich jeweils an die aktuelle Einwanderungssituation angepasst, die Vorurteile blieben aber dieselben.
Das Nicht-Dazugehören prägt das ganze Leben
«Mir war der spielerische Zugang zum Thema im Stück auch deshalb so wichtig, weil ich nicht für Menschen sprechen kann, die eine Fluchterfahrung gemacht haben», sagt Pergoletti. Sie habe sich dem «Monster unter dem Bett» gestellt und verstanden, «dass es einen verändert, wenn einem immer gesagt wird: Du gehörst hier nicht dazu».
Grazia Pergolettis Lebensgeschichte ist nur eine von vielen, die von der Schwarzenbach-Initiative geprägt wurde. «Es ist verrückt, dass diese Zeit, die so viele Verletzungen verursachte, nie richtig aufgearbeitet wurde.» Es gebe zwar Bücher, Dokumentationen sowie Forschung zum Thema, aber die gesellschaftliche Diskussion fehle bis heute. «Vielleicht kann dieses Stück ja ein bisschen dazu beitragen», hofft Pergoletti.
Schwarzenbach – Le dolci vite Premiere:
Fr, 11.10., 20.00 Schlachthaus Theater Bern
Weitere Vorführungen:
Ab Fr, 22.11., Theater Chur
Ab Sa, 7.12., Neues Theater Dornach SO
Ab Mi, 12.3., Theater Winkelwiese Zürich