Armela hat ihr Dorf verlassen. Ihr Bruder Armin ist geblieben. Als die Grossmutter stirbt, kehrt Armela zurück. «Was machst du hier?», begrüsst Armin seine Schwester unwirsch. Denn ihre Rückkehr bringt unbeantwortete Fragen wieder auf den Tisch, reisst alte Wunden auf. Damals gab es im Dorf einen Tumult um eine Flüchtlingsunterkunft, die am Schluss brannte. Und niemand weiss, wer eigentlich was gemacht hat.
In ihrem neuen Stück «Schimmernde Schluchten» zeichnet Anaïs Clerc ein beklemmendes Bild von einem Schweizer Ort, in dem Landidylle und menschliche Abgründe miteinander verwoben sind. Beim Videogespräch erzählt Anaïs Clerc, die im Fribourger Dorf Cordast aufgewachsen ist, dass ihr die Idee zum Stück bei einem Balkongespräch gekommen sei.
Ein Freund mit Migrationsgeschichte habe sie am Telefon gefragt, ob er probieren solle, einen Antrag für die Einreise in die Schweiz zu stellen. «Ich musste ihm sagen: ‹Ich weiss nicht, ob du in der Schweiz wirklich besser dran bist als in Deutschland.› Und während ich telefonierte, ist unten auf der Strasse ein räudiger, fetter Bernhardinerhund durchgelaufen, und die beiden Bilder haben sich in meinem Kopf vermischt.»
«Die Schweizer Neutralität gilt nicht für alle gleich»
Drei Bernhardinerhunde oder Barrys, wie Clerc sie nennt, kommentieren im Theaterstück «Schimmernde Schluchten» wie beratende Politiker das Geschehen. Sie betrauern ihre schimmelnden Holzfässchen und werweissen, welches Futter die heimkehrende Armela ihnen wohl mitgebracht hat.
Einer von ihnen ist rechts gesinnt, einer links, und einer versucht, so gut es geht, neutral zu sein. «Doch die Schweizer Neutralität gilt nicht für alle Menschen gleich und kommt nur zum Zug, wenn die Schweiz aus ihr Profit schlagen kann», so Anaïs Clerc. «Sie ist genau so sehr Mythos wie die Fässchen der Barrys.»
Für das dichte Stück besuchte Clerc das «Barryland» in Martigny und interviewte Damir Skenderovic, der an der Universität Fribourg zu Rechtsradikalismus forscht. Von ihm erfuhr sie, dass es in der Schweiz in den 90er-Jahren – heruntergerechnet auf die Grösse des Landes – pro Kopf mehr rechtsradikale Anschläge gab als in Deutschland. «Und auch von den Zurückweisungen an der Grenze während der Nazizeit und den 30 000 Judenstempeln, welche die Schweiz in Pässe gedruckt hat, habe ich erst durch meine Recherche erfahren.
Das lernt man hier nicht in der Schule.» Clerc stört es, dass immer nur der deutsche Rechtsruck besprochen wird und die Schweiz ungeschoren davonkommt. Sie pendelt zurzeit zwischen Berlin, wo sie ihr Studium in szenischem Schreiben abschliesst, und Bern, wo sie schon als Hausautorin am Stadttheater arbeitet.
Die 32-Jährige blickt aber nicht nur kritisch nach rechts. Als «eine vom Dorf», die sich das Studium an der Coop-Kasse finanziert hat, habe sie die junge linke Szene anfangs als sehr klassistisch empfunden, sagt sie. «Als ich mit 25 Jahren nach Berlin kam, kannte ich viele Codes und Ausdrücke nicht. Wenn ich nachfragte, wurde ich schräg angeschaut. So überzeugt man niemanden.»
Der Stadt-Land-Graben, den sie selbst erlebt hat, spiegelt sich in dem Schweigen zwischen den Geschwistern im Stück. «Gerade in Zeiten des Rechtsrutsches müssen wir aber miteinander reden», sagt Clerc. Bleibt zu hoffen, dass es dafür nicht wie bei Armin und Armela zuerst eine Lawine braucht.
Schimmernde Schluchten
Uraufführung: Di, 21.1., 19.30
Vidmar 2 Bern