Jim Fingal steht – seine Jacke in der Hand – an der Tür von John d’Agatas Wohnung, aus der er soeben rausgeworfen worden ist. Trotzdem kann Fingal sich nicht zurückhalten: «Sie haben geschrieben, dass man die älteste Flasche Tabasco unterhalb des Buckets of Blood Saloon gefunden hat.» D’Agata, ein so berühmter wie empfindlicher Autor, ist sichtlich genervt: «Ja …» Die Jacke langsam wieder ablegend, schiebt Fingal nach: «Die hat man aber unter dem Boston Saloon gefunden, der 15,24 Meter davon entfernt ist.» «Und?» «Sie sollten das ändern, es ist falsch.»
Stilistische Blüten verändern den Inhalt
Wir sind auf der Probenbühne im Stadttheater Solothurn, wo gerade das Stück «Das kurze Leben der Fakten» geprobt wird. Das Buch der US-amerikanischen Autoren John d’Agata und Jim Fingal beruht auf einer wahren Begebenheit, die sich zwischen den beiden ereignete: D’Agata (Nicolas Rosat) hat einen Essay über den Suizid eines jungen Manns in Las Vegas geschrieben. Der eifrige Praktikant Jim Fingal (Gabriel Maurer) wird von Emily (Silke Geertz), Chefredaktorin eines renommierten Magazins, mit dem Faktencheck beauftragt. Fingal nimmt seinen Auftrag sehr ernst. Seine Korrekturen erstrecken sich über 130 Seiten, der Essay hat nur 15. Als Fingal d’Agata dann auch noch in dessen Wohnung aufsucht, eskaliert der Streit zwischen den beiden.
Doch nicht alle Korrekturen von Jim Fingal sind so nebensächlich wie der genaue Fundort der Tabascoflasche. So machte d’Agata aus dem Sprung einer jungen Frau von einem Hochhaus eine Selbsterschiessung, damit im Essay steht: «An jenem Tag starben fünf Menschen an Krebs, vier an einem Herzinfarkt, drei an einem Schlaganfall, zwei durch Schusswaffen und einer durch Erhängen.» Seine Verteidigung: Der Countdown klinge stilistisch besser.
Die feine Grenze zwischen Fakt und Fiktion
Ist das Stück also eine Ode an die Fakten? So einfach ist es nicht. Denn ohne ein bisschen kreative Freiheit sind spannende Texte schwer zu schreiben. Allerdings macht es einen Unterschied, ob in einem Zitat «also» weggelassen oder ob eine zentrale Handlung komplett abgeändert wird. Das Stück im Theater Orchester Biel Solothurn verhandelt die feine Grenze zwischen Fakt und Fiktion. Wo hört journalistische Sorgfaltspflicht auf, und wo fängt der Pedantismus an? Wie viel Freiheit darf sich ein Autor in einem Essay – einer Textform, die mit den Grenzen zwischen Sachtext und Literatur spielt – nehmen? Rechtfertigt der Stil Lügen? D’Agata hat dazu eine klare Haltung. Als Fingal auf seinen Fakten beharrt, verwirft d’Agata die Hände, steht auf und ruft spöttisch: «Ein Liter Wasser kocht bei 100 Grad Celsius – hurra, feiern wir eine verdammte Party und verbrennen Shakespeares Sonette!»
Die Regisseurin Angelika Zacek sagt: «Fakten werden heute auf Social Media und in einigen etablierten Medien, aber auch von Politikern wie Donald Trump immer mehr verwässert. Manche Leute sagen dann, Fakten seien Ansichtssache – das ist eine ganz gefährliche Haltung.» Sind also Propaganda, Schludrigkeit und dünkelhafte Autoren wie d’Agata schuld am Untergang der Fakten? Nicht nur. Zacek sagt: «Diese Entwicklung hat auch mit Medienlogik zu tun. Jede Zeitung will die erste sein.»
Und auch den Kapitalismus stellt das Stück an den Pranger. So antwortet Emily, als d’Agata nach der Faktencheck-Abteilung fragt: «Seit der Umstrukturierung gibt es per se keine Abteilung Faktencheck mehr. Deshalb üben sich jetzt alle neuen Redaktionsmitglieder auch als Faktenchecker.»
Im Dialog mit den Spielern
Regisseurin Zacek betont, sie nehme in der Schweiz ein starkes Bewusstsein für die Wichtigkeit von Medienqualität wahr, etwa in der Abstimmung zu den SRG-Gebühren. «‹Das kurze Leben der Fakten› passt wunderbar hierher.» Es ist Zaceks erste Inszenierung in der Schweiz. Sie studierte Schauspiel in Wien und Regie in Berlin und ist seit 15 Jahren in Deutschland und Österreich als freie Regisseurin tätig. 2017 gründete Zacek mit sechs weiteren Regisseurinnen einen Verein, der sich für Gleichberechtigung und moderne Führungstechniken an deutschsprachigen Bühnen einsetzt. Diesen Dialog mit den Schauspielerinnen sucht sie auch während der Probe in Solothurn.
Mitten im Satz klopft es dort an der Tür. «Das Sofa ist da», verkündet Bühnenbildner Gregor Sturm und trägt ein überdimensionales grünes Sofa hinein. Zacek spielt einen Elvis-Song ab und ermuntert die Schauspieler, auf dem Sofa herumzuturnen, «um ein Gefühl dafür zu bekommen.» Gabriel Maurer beginnt sofort mit akrobatischen Übungen. Als er mit den Worten «Wissen Sie was? Ich sollte jetzt gehen» einen Purzelbaum übers Sofa hinlegt, lachen alle. «Das nehmen wir rein!», ruft Maurer begeistert. Zacek sagt: «Mir ist es sehr wichtig, dass sich die Schauspieler während der Probe öffnen. Nur wenn wir Fehler machen können, erreichen wir die Tiefe und die Höhen, die ich im Stück suche.»
Mit intelligentem Humor
In New York wurde «Das kurze Leben der Fakten» vor fünf Jahren mit Harry-Potter-Star Daniel Radcliffe in der Rolle des Jim uraufgeführt. Es erntete viel Lob, aber auch Kritik an der Stringenz. «Am Broadway wird oft ein realistischer Ansatz verfolgt. In den deutschsprachigen Theatern nehmen wir uns mehr künstlerische Freiheit», sagt Zacek. Sie will, dass auch die Körper der Spieler und das überdimensionale Sofa etwas über das Stück erzählen. In der Probe verstärkt das die Spannung der dichten Dialoge. Textlich bleibt Zacek in der Inszenierung für Solothurn aber nahe am Original. Und das ist auch gut so: Denn das Stück hat einen intelligenten Humor und verzichtet auf einfache Schwarz-Weiss-Darstellungen der komplexen Problematik. Zacek sagt: «Mein Ziel ist, dass das Publikum einen spannenden Abend hat und mit interessanten Fragen nach Hause geht.»
Das kurze Leben der Fakten
Premiere: Fr, 24.11., 19.30 Stadttheater Solothurn
Ab Sa, 16.12, Stadttheater Biel