19.40 Uhr: Das Gefühl, wenn man von der Einkaufs- und Messemeile Clarastrasse herkommt und dann erst mal am Basler Strassenstrich vorbeipromeniert, wo in den Beizen angejahrte Herren vor ihrem Bier sitzen: Alles ist möglich. Nur einen Steinwurf entfernt, auf dem riesigen Innenhof der Kaserne, spielen Teenager Basketball. Vom Spielfeldrand kommen Anfeuerungsrufe. Aber auch: «Lucien, du Versager!» Eine Sekundarschulklasse aus Gelterkinden, wie sich herausstellt.
19.50 Uhr: Der Lehrer mahnt, die Handys auf lautlos zu stellen. Dann öffnet Uwe Heinrich, Leiter des Jungen Theater Basel, die Tür, und wir nehmen Platz in einem täuschend echt aussehenden Schulzimmer.
19.55 Uhr: Kahle Betonwände, eng aneinandergereihte Pulte, Furnierholz-Drehstühle, vorne eine etwas mickrig geratene Wandtafel. Die Basketballfraktion ist auch da, ein paar «Problemjugendliche» aus dem Heim mit zwei Aufsichtspersonen ebenfalls. Durchschnittsalter des Publikums: gefühlte 16.
20.00 Uhr: Das Stück beginnt mit Uwe Heinrich als Lehrer, der gleich mal nach Lieblingsfächern in die Runde fragt. Aber da fliegt die Tür auf, und herein stürmen drei Jugendliche. Eine davon, Mira (Julie Ilunga), trötet auf Baseldeutsch ins Megafon: «Darf ich schnell diese Klasse ausleihen? Dauert nur zwei Minuten.» Es wird länger dauern.
20.10 Uhr: Miras Mission: Sie will zwischen Gwen (Charlotte Lüscher) und Yves (Lorenzo Maiolino) vermitteln, weil diese ihm ein Messer in die Hand gerammt hat (also fast), sich aber partout nicht entschuldigen mag. Gehen so beste Freunde miteinander um?
20.15 Uhr: Staunende Blicke im Publikum, Kichern, Augenrollen, mitunter gar Nägelkauen. Das Stück fesselt umso mehr, als die Streithähne auf Pulte springen und sich gegenseitig oder die Schlichterin angifteln.
20.20 Uhr: Ein Schüler aus dem Publikum will seine Sitznachbarn ebenfalls unterhalten. Uwe Heinrich mahnt zur Ruhe.
20.25 Uhr: Inzwischen ist klar, dass Yves im Stück Gwen geghosted hat. Noch mehr Unverständnis, noch mehr Geschrei. Aber dann: «Könnt ihr bitte bitte bitte bitte bitte aufhören?» Mira verlässt fluchtartig den Raum. Ausgerechnet die Vorsteherin von «Amore United», einem fiktiven schwedischen Modell zur Konfliktlösung, scheint nicht konfliktfähig zu sein.
20.30 Uhr: Gwen und Yves halten – mit gebührendem Abstand – drei Streitvarianten an der Wandtafel fest: Fight (Kämpfen), Flight (Fliehen) oder Freeze (Erstarren). Dann schweigen sie sich an. Man könnte eine Stecknadel zu Boden fallen hören.
20.35 Uhr: Die Ruhe ist von kurzer Dauer. Als einer Zuschauerin die Wimper verrutscht, kann man sich in ihrer Ecke kaum noch beruhigen. Glucksen und Kichern, während zwischen Gwen und Yves eine Annäherung zumindest wieder denkbar scheint.
20.45 Uhr: «Amore United», intensiv und knapp, geht wie eine Schullektion nach einer Dreiviertelstunde zu Ende. Nach kurzem Applaus stiebt das junge Publikum nach draussen, die zwei letzten stellen ihre Stühle aufs Pult. Fast wie im richtigen Unterricht. Alles ist möglich-
Amore United
Bis Mi, 21.6, im Jungen Theater Basel oder in einem Klassenzimmer der Region.
Nach den Sommerferien wird das Stück wieder aufgenommen.
www.jungestheaterbasel.ch
Fünf Fragen an Theaterpädagoge Uwe Heinrich: «Streit gehört zum Leben»
kulturtipp: Was hat es mit dem Titel «Amore United» auf sich?
Uwe Heinrich: Den Titel haben wir erfunden. Man kann dahinter eine gutmenschliche Orientierung vermuten, weil es ein bisschen nach schwedisch und sozialdemokratisch klingt. Jedenfalls für ältere Semester.
Das Stück wird im Jungen Theater Basel aufgeführt, kann aber auch fürs Klassenzimmer gebucht werden. Warum?
Weil man so gewisse Themen direkter ansprechen kann. Eine Lehrperson muss also nicht sagen, dass man jetzt ein Stück zum Thema Streit im Theater anschauen werde. Wir sind ja schon da, um die Schüler zu überraschen. Zudem muss man in der Klasse nicht einen realen Konflikt verhandeln, sondern kann über das Prinzip Streit reden. Streit gehört zum Leben. Dazu wollen wir eine lustvolle Variante bieten.
Gibt es Unterschiede in der Rezeption auf der Bühne gegenüber dem Schulzimmer?
Und wie! Im Theater dürfen die jungen Schauspieler alles machen, es ist ihre Bühne. Wenn nötig kann ich auch mal einschreiten. In einem Klassenzimmer würde das nicht akzeptiert. Da ist die Situation viel unberechenbarer. Aber «Amore United» ist fesselnd genug, dass die Schüler auch die stillen Momente im Stück gut aushalten.
Wissen die Schauspieler vorher, wie das Klassenzimmer aussieht?
Nein, das ist mein Job. Ich muss zum Beispiel schauen, ob es eine Wandtafel, ein Whiteboard oder ein Flipchart hat. Und wo die Schauspieler Platz haben, um durchzulaufen. Zudem verzichten wir auf ästhetische Mittel wie Licht und Sound.
Sie bieten auch Vor- und Nachbereitungen zum Stück an. Wird das oft dazugebucht?
Nein. Aber «Amore United» ist so selbsterklärend, dass sowohl Lehrpersonen wie Jugendliche weiter diskutieren können, ohne geführt werden zu müssen.