Dreiundvierzig Jahre alt bin ich nun. Und noch immer erstaunen mich die Menschen. Leider oft nicht auf erfreuliche Weise. Aber lassen Sie mich kurz ausholen. Vor einigen Tagen bin ich mit dem Fahrrad gestürzt und habe mir dabei diverse Schürfungen zugezogen. Am Abend erschien ich notdürftig verarztet zu einer Lesung. Mein Ellbogen blutete immer noch etwas, weswegen mein Hemd an jener Stelle einen roten Fleck hatte, und meine rechte Hand war eingebunden. Ich muss einen besorgniserregenden Eindruck hinterlassen haben, denn eine der Zuhörerinnen wollte nach der Lesung vom Veranstalter wissen, ob ich wohl depressiv sei, wie dieser mir später verriet. Weil ich mich ja ganz offensichtlich mutwillig selbst verletzte.
Ich fragte mich: Wer würde das tun? Wer würde sich extra verletzen und dann blutverschmiert und bandagiert herumlaufen, damit es alle sehen? Während ich darüber nachdachte, fielen mir die vielen Menschen ein, die, nachdem sie erfahren hatten, dass ich Veganer bin, entgegneten, ich würde «das doch nur machen», weil es «Mode» sei. Auch da hatte ich mich gewundert: Wer würde das tun? Wer würde seine Ernährung umstellen, bloss um ein bisschen hip zu sein? Was pflegen diese Leute für ein boshaftes Menschenbild, wenn sie spontan derartige Interpretationen zur Hand haben?
Dasselbe bei meinem neuen Buch. Es heisst «Trennt Euch!» und ist ein Essay über inkompatible Beziehungen. Meiner Meinung nach passen die meisten Paare nämlich überhaupt nicht zusammen und führen einen ebenso schmerzhaften wie aussichtslosen Machtkampf um Verständnis und Frieden. Bei den einen kommt das Buch sehr gut an, bei den anderen nicht so. Sie verstehen es – vermutlich, weil sie es gar nie in die Hand genommen, sondern nur darüber gehört haben – als einen Aufruf zum Abbruch sämtlicher Verhältnisse, kaum gestalten sich diese etwas anspruchsvoll. Sie empören sich online und in Leserbriefen darüber, dass nun also auch Beziehungen zum «Wegwerfartikel» geworden seien. Aber was für ein Mensch würde so über Beziehungen denken und so mit anderen umgehen? Was für ein zynischer Egoist müsste das sein? Und warum sind die Leute so flink dabei, in anderen zynische Egoisten und andere Ungeheuer zu sehen?
Um es kurz klarzustellen: Meiner Ansicht nach sind Schwierigkeiten in einer Beziehung noch kein Grund zum Davonlaufen, denn sie entstehen in jeder zwischenmenschlichen Begegnung. Jede Beziehung hat Herausforderungen, die gemeistert werden müssen. Wenn sie allerdings zur Hauptsache aus Problemen besteht und diese nicht gelöst werden können, sondern sich nur wiederholen, ist es Zeit, sich zu trennen, und zwar dem eigenen Seelenheil zuliebe. Das ist meine Meinung, und ich empfinde sie nicht einmal als sonderlich gewagt. Aber offenbar sind Partnerschaft, Ehe und Familie so etwas wie soziale Heiligtümer, und wer dagegen anschreibt, muss der Teufel persönlich sein.
Das ist bemerkenswert, wenn man besieht, wie frustriert, verärgert, gequält, hilflos und vor allem wie erschöpft viele Menschen über ihre Beziehung sprechen. Sie haben ganz offensichtlich keine Freude mehr am Zusammensein mit ihrem Partner, über den sie sich pausenlos beschweren. Fordert man sie dann aber auf, sich zu trennen, was, wie man naiverweise meinen könnte, streng den Gesetzen der Logik folgt, schwenkt ihre Klage sofort um auf die Beschwerlichkeit einer Trennung und die Ödnis des Lebens danach, garniert vom Verweis darauf, dass sie ihren Partner «schon gern haben», wie sie es ausdrücken. Dieses verhaltene Liebesbekenntnis verleiht ihnen ausreichend Schwung, um sich dann ihres Durchhaltewillens zu rühmen und überhaupt ihrer Seriosität in Liebes- und Lebensfragen, woraufhin sie schliesslich zum Gegenangriff übergehen und einen der Oberflächlichkeit und Liederlichkeit bezichtigen. Wie diesen furchtbaren Thomas Meyer, der allen Ernstes dazu aufruft, einen krank gewordenen Partner ins Pflegeheim abzuschieben! Oder was in seinem Scheissbuch auch immer steht, das ich sicher niemals lesen werde!
Dreiundvierzig Jahre alt bin ich nun. Und noch immer erstaunen mich die Menschen. Neuerdings mit ihrer geradezu religiösen Bereitschaft, Strukturen und Sitten zu verteidigen, die nicht mehr funktionieren, und dafür ein Leben in Leid und Verzicht zu verbringen. Sie scheinen darin den Preis zu sehen, den sie für den Eintritt ins Paradies zu entrichten haben. Offenbar ist das mittelalterliche Himmel-und-Hölle-Versprechen der Kirche noch immer tief in den Köpfen verankert. Anders lässt sich der Widerstand nicht erklären, der sich erhebt, wenn jemand behauptet, das Leben solle Freude bereiten.
Ich will mich gut fühlen, wenn ich morgens aufstehe. Ich will mich auf meinen Tag und die Menschen, denen ich begegne, freuen können. Ich will abends gern nach Hause kommen und mich gern zu der Frau legen, die dort im Bett liegt. Ich will mit friedlichen, schönen Gedanken einschlafen, nicht mit besorgten. Ich will glücklich sein, und das ist meine Vorstellung davon: Zufriedenheit. Leichtigkeit. Und ich bin bereit, alles dafür zu tun, was nötig ist. Und in meinen Augen ist es, um glücklich zu sein, simplerweise nötig, sich von allem zu verabschieden, was einen daran hindert. Auch wenn einen die Umwelt als einen Schurken sieht, der sich aus jeder zwischenmenschlichen Begegnung davonstiehlt, kaum erfordert diese etwas Engagement, und jedem empfiehlt, es ihm gleichzutun. Aber nach dreiundvierzig Jahren weiss ich nun, dass ich keinerlei Kontrolle darüber habe, wie andere mich sehen. Ich kann tun und sagen, was ich will. Und genau das werde ich künftig auch tun.
Thomas Meyer
Der Zürcher Autor (*1974) hat nach einem abgebrochenen Jus-Studium als Werbetexter und Reporter gearbeitet. Sein 2012 erschienener Debütroman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» wurde zu einem Bestseller. Thomas Meyers neues Buch «Trennt Euch!» (Salis Verlag) ist ein «Essay über inkompatible Beziehungen und ihr wohlverdientes Ende».