Niemand hat die Klischees über Deutsche so trefflich beschrieben wie Thomas Wolfe: «Sie bewegten sich langsam und geduldig vorwärts, mit der ungeheuren Massivität, die ein Wesenszug ihres Daseins zu sein scheint, und sie nahmen die Bewegung der Menge mit tiefer Genugtuung hin .» Wolfe berichtet vom Oktoberfest in München, das er 1928 besuchte. Erschienen ist der Text in der neuen Sammlung «Eine Deutschlandreise» mit Kurzgeschichten, Briefen und Reisenotizen. Der Schriftsteller berichtet darin von seinen Erfahrungen in Deutschland zwischen 1926 und 1936.
Der heute in Europa weitgehend vergessene Wolfe (1900–1938) hat vier Romane geschrieben, vor allem aber machte er sich in seinem jungen Leben als Verfasser von zahlreichen impressionistischen Aufzeichnungen, von Erlebnisberichten und Notaten einen Namen. Er gilt heute als einer der Vorläufer der Beat-Generation mit Exponenten wie Jack Kerouac. Wolfe verstarb vor dem Zweiten Weltkrieg früh an einer Gehirntuberkulose.
Trotz seiner boshaften Schilderung der Besucher am Oktoberfest liebte Wolfe das Land mit Genies wie Ludwig van Beethoven oder Johann Wolfgang von Goethe. Vor allem aber die pittoresken Städtchen und die schönen Landschaften brachten ihn ins Schwärmen: «Es ist, als käme man in jenes unbekannte Land, nach dem unser Geist sich in der Jugend so leidenschaftlich sehnte», schreibt er über Bayern.
Zwischen Faszination und Abscheu
Wolfe ignorierte zuerst den Aufstieg von Adolf Hitler, nahm ihn nicht ernst. Erst auf seiner letzten Reise 1936 erkannte er das Wesen der totalitären Diktatur, vor allem aber verstand er die Gefahr für die Juden im Dritten Reich. Wolfe, wiewohl selbst infiziert vom Antisemitismus, schreibt in der Novelle «Nun will ich Ihnen was sagen» von der Eisenbahnreise weg aus Deutschland nach Belgien. Dieser Text ist ein Schlüsselwerk Wolfes, denn er kontrastiert darin seine Faszination mit der Bedrohung des Faschismus. Damit erging es ihm ähnlich wie anderen Autoren seiner Generation. Max Frisch kämpfte mit dem Widerspruch zwischen Bewunderung und Abscheu, ebenso der Engländer Christopher Isher-
wood im Roman «Goodbye to Berlin», der in der Filmversion «Cabaret» für Furore sorgte.
Der Erzähler, Wolfes Alter Ego, nimmt in der Novelle Abschied von Berlin. Er lässt auf dem Bahnsteig einen Freund zurück und weiss, dass er ihn nie mehr sehen wird. Als der Zug die Grenze erreicht, kommt es zum Eklat. Die Polizei verhaftet einen Mitreisenden. Er ist Jude und soll angeblich versucht haben, Devisen zu schmuggeln.
Thomas Wolfe ist ein guter Beobachter. Streckenweise betrachtet er die Deutschen wie ein Forscher seine Ameisen unter einem Mikroskop. Doch hindert diese Gabe den Autor nicht daran, mitunter oberflächlich zu bleiben, etwa auch bei einem kurzen Besuch in der Schweiz im Jahr 1926: «Zürich, eine deutsche Stadt – jeder spricht hier deutsch…» Nicht alle Zürcher werden das damals ganz so gesehen haben.
Buch
Thomas Wolfe
Eine Deutschlandreise
408 Seiten
(Manesse 2020)