Es ist ein ambitioniertes Unterfangen: die besten Werke der Schweizer Literatur aus den letzten 250 Jahren – aus allen vier Sprachregionen und allen Genres – in einem handlichen Buch einzufangen. Fünf Expertinnen und Experten haben sich von ihrer Literaturleidenschaft leiten lassen und sich diesem Wagnis gestellt. Mit grossformatigen Bildern und kurzen Texten stellen sie ihre 99 Favoriten vor: vom Roman über die Erzählung bis zum Gedicht, Kinderbuch und Comic – ergänzt mit drei Essays, die überraschende Perspektiven auf die Schweizer Literatur einnehmen und Zusammenhänge herstellen. Der kulturtipp hat Mitherausgeber Pascal Ihle zur Qual der Wahl und zu den Eigenarten der Schweizer Literatur befragt.
kulturtipp: Wenn im Ausland die Rede auf Schweizer Literatur kommt, werden allenfalls Dürrenmatt, Frisch und «Heidi» genannt, ansonsten sind die meisten ratlos. Wie haben Sie das erlebt?
Pascal Ihle: Mit dieser Ratlosigkeit begann unser Projekt. In einem altehrwürdigen Pub in Dublin diskutierten wir in einer heiteren Runde mit irischen, englischen und schwedischen Bekannten über Literatur. Was fiel zur Schweiz ein? Heidi. Sonst nichts. Diese Diskussion liess mich nicht mehr los. Zurück in der Schweiz, traf ich mich mit der Kultur- und Literaturwissenschafterin Christine Lötscher, dem NZZ-Feuilletonredaktor Thomas Ribi, der Mittelschullehrerin und Buchhändlerin Sandra Valisa sowie der Bildredaktorin und Journalistin Sonja Lüthi. Wir fragten uns: Wen kennt und liest man in der Schweiz? Wie verankert ist die schweizerische Literatur bei uns? Wir diskutierten und tauschten uns über Bücher aus, die wir für wichtig halten und die uns geprägt haben.
Die Bandbreite im Buch ist riesig. Lässt sich nach der Lektüre sagen, was das spezifisch Schweizerische ausmacht? Was sagt die Schweizer Literatur über unser Land und seine Bewohner aus?
Die Literatur aus der Schweiz ist eine wahre Fundgrube an Geschichten und Figuren. Sie sagen viel über dieses Land, seine Entwicklung, seine Besonderheiten und über die Menschen, die hier leben und gelebt haben. Doch das spezifisch Schweizerische? Dafür ist die Bandbreite viel zu gross. Falls Sie an so etwas wie eine Nationalliteratur denken, dann muss ich Sie enttäuschen. Natürlich spielen die Natur, die Bergwelt oder der Lac Léman in der Westschweiz immer wieder eine Rolle, ebenso richtige Helden und gescheiterte Existenzen. Manche fühlen sich in ihrer Heimat geborgen, andere halten die Enge, die Bigotterie und die Armut nicht mehr aus, brechen auf, gehen möglichst weit weg. Dritte finden in der Schweiz Halt, Schutz vor Verfolgung. So entsteht ein ganzes Netzwerk von Verbindungen zwischen Texten und Figuren, Schauplätzen und Motiven, literarischen Verfahren und sprachlichen Experimenten.
Es heisst oft, Schweizer Literatur sei – mit wenigen Ausnahmen – unpolitisch, insbesondere die jüngere Generation. Wird der Schwerpunkt im Buch bewusst auf politische und gesellschaftskritische Texte gesetzt?
Nein, bewusst haben wir das Thema nicht gewählt, doch unter dem Aspekt des «coup de cœur» widerspiegelt es unsere Vorlieben und Persönlichkeiten. Einmal mehr zeigt sich, wie ein Ruf vorverurteilen kann, wonach Schweizer Literatur unpolitisch oder schwerfällig sei. Wir erleben sie ganz anders, durch ihren hintergründigen, manchmal abgründigen Witz. Mit unserem Projekt wollen wir genau solche Vorurteile aufbrechen und die Vielfalt und Schönheit der Schweizer Literatur aufzeigen. Manche Texte sprühen vor Experimentierlust und schlagen Funken aus der Sprache, andere haben einen langen epischen Atem.
Warum die Nachwuchsautorin Meral Kureyshi und nicht Dorothee Elmiger, warum Bestseller-Autor Joël Dicker und nicht Alex Capus? So kann man bei diesem Buch natürlich endlos weiterfragen. Gab es im Vorfeld hitzige Diskussionen – oder durfte jeder im gut schweizerischen Kompromiss seine eigene Auswahl treffen?
Wir haben uns ganz von unserer Leseleidenschaft leiten lassen. Kompromisse spielten eine untergeordnete Rolle, da wir keine weichgespülte Auswahl suchten, sondern Qualität, auch voller Ecken und Kanten. So ist eine Sammlung von Texten entstanden, die zur Identität der Schweiz beiträgt – und die zeigt, wie vielfältig diese Identität ist. Das Buch ist eine Liebeserklärung an die Schweizer Literatur.
Trotz subjektiver Auswahl: Welche Kriterien mussten die ausgewählten Bücher erfüllen?
Im Zentrum der Auswahl steht die literarische Qualität. Die Bücher müssen packen, erschüttern, erfreuen. «99 beste Schweizer Bücher» ist weder Literaturkanon noch nüchternes Nachschlagewerk. Es ist Fundgrube und Inspirationsquelle zugleich. Es handelt sich um eine unvollständige Auswahl, die aber dazu animieren soll, zu lesen und sich selber auf die Suche zu machen. Einige bekannte Werke haben wir zugunsten von Entdeckungswürdigem weggelassen. Die Liste wird von uns auf Onlineplattformen, auf Instagram, Twitter und Facebook fortgeführt. Zu den 99 Büchern aus den letzten 250 Jahren werden viele weitere hinzukommen: bekannte Stars, Schönheiten, die aus irgendeinem Grund in einer Art Tiefschlaf liegen, überraschende wie experimentelle Werke.
Welche Lese-Entdeckungen haben Sie selbst während der Recherche gemacht?
Eine grandiose Entdeckung ist das Gesamtkunstwerk «Ungewisses Manifest» von Frédéric Pajak, der kürzlich den Grand Prix Literatur gewonnen hat. Der perfekte Schmöker für den Lockdown: «Die Schöne des Herrn» von Albert Cohen, ein 1000-seitiger rauschender Roman einer tödlichen Liebe, die 1935 im grossbürgerlichen, calvinistischen und internationalen Genf spielt. «Der bittere Weg» der Reiseschriftstellerin Ella Maillart, die sich 1939 mit ihrer Freundin Annemarie Schwarzenbach auf eine faszinierende Reise von der Schweiz nach Afghanistan macht. Und alle Bände des Comic-Weltstars Titeuf vom grossartigen Westschweizer Philipp Chappuis alias Zep – denn Lachen ist auch in diesen Zeiten gesund.
Onlineprojekt: #büCHerstimmen
www.bücherstimmen.ch oder über Facebook, Twitter, Instagram
99 beste Schweizer Bücher – Literarische Coups de Cœur
Hg. Pascal Ihle, Christine Lötscher, Sonja Lüthi, Thomas Ribi, Sandra Valisa
224 Seiten
(Nagel & Kimche 2020)