Der erste Gedanke: «Verrückt!» 200 Sänger aus Lettland und der Schweiz, gebildet aus neun Chören, sollen in der Tonhalle Maag gemeinsam ein Konzert geben? Dabei würden sie nicht nur lettische und Schweizer Lieder singen, sondern auch gleich ein Werk für Chor und Cello uraufführen.
Der in Zürich lebende Lette Uldis Makulis war von seiner Idee so überzeugt, dass er sie weitherum glaubhaft machen konnte. Und er hatte genügend Sängerinnen und Sänger sowie verschiedene Geldgeber im Boot – unter anderen Pro Helvetia und Radio SRF 2 Kultur.
Seelenwärmend schöne Lieder vom Letten-Sein
Die lettische Gesangstradition ist fest im Volk verankert. Das grösste Gesangsfest findet alle fünf Jahre in Riga statt. Beim Schlusskonzert im Juli standen 17 000 Menschen auf der Freilichtbühne in Riga. Lettland feierte an diesem Abend eine kulturelle Generalmobilmachung. Aber im Mezaparks in Riga wird keine Technik- oder aufgesetzte Nationalisten-Show geboten, sondern einfach eine breite Palette an Volksliedern seelenwärmend schön gesungen.
Doch was heisst schon Volkslied? Bei jenen Liedern – oder soll man Hymnen sagen? –, die das Letten-Sein und die Freiheit besonders melancholisch feiern, stehen die 30 000 Zuhörer wie auf Befehl geschlossen auf. Eine Melodie klingt herzzerreissender als die andere, obwohl da offenbar nur von klaren Flüssen, netten Mädchen, Birkenwäldchen und lauen Winden erzählt wird. Der staunende Gast merkt, dass hier etwas in den lettischen Seelen Verborgenes gefeiert wird. Das Gefühl, dass man in Riga bloss Zuschauer eines geheimen Ritus ist, beschleicht einen. Ist es ein Fest der Letten für Letten?
Uldis Makulis verneint heftig und meint, dass es geradezu eine Verantwortung der Letten sei, ihr Kulturgut der Welt zu zeigen: «Das gehört nicht nur uns!» Dem Restaurator, der in Zürich arbeitet, ist es ein Herzensanliegen, die lettische Kultur der Schweiz vorzuführen. Ehrensache, dass er mit seinem «Zürcher» Chor Balts am Gesangsfest mit dabei war. Die in der Schweiz lebenden Letten mussten eine Aufnahme nach Riga schicken, erhielten dafür Topnoten und durften dann gar beim Schlusskonzert mittun. Die besten lettischen Chöre messen sich zudem vor dem Finale im «Krieg der Chöre»: Oft hat man dafür eine Uraufführung lettischer Komponisten im Gepäck, führt eine Tradition in die Zukunft. Mittlerweile existieren 1,4 Millionen lettische Volkslieder.
Die Nationalhymne überlebte im Verborgenen
Wer das Gesangsfest erlebt, erkennt die politische Dimension der Lieder, merkt, dass die sogenannte «Singende Revolution» kein Mythos ist. Gemeint ist damit die Periode der nationalen Bewegungen im Baltikum, der gewaltlose Kampf von 1987 bis 1991 um die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit. 45 Jahre lang hatte die Sowjetunion ihre Pranke auf das Baltikum gelegt, es aber nicht geschafft, Identität und Kultur der drei Staaten zu zerstören: In den Liedern lebte Lettland weiter.
Blutrot haben viele Sängerinnen beim Schlusskonzert die Lippen geschminkt. Keine 30 Jahre ist es her, da war es in Lettland verboten, die blutrot-weisse Flagge zu hissen. Die Nationalhymne «Dievs, sveti Latviju» («Gott, segne Lettland») überlebte im Verborgenen. Es entstanden naturgemäss heimliche Hymnen, die dann noch viel mächtiger und schauerlicher klangen, da die Sowjets genau wussten, was die Lieder bedeuteten. Doch gegen Tausende von Kehlen und codierte Worte hatte Moskau keine Waffen.
Wenn das Chorwesen in Lettland eine Religion ist, dann ist Maris Sirmais ihr Papst. Dass die lettischen Chöre die besten der Welt sind, ist für den Dirigenten des Staatschores klar: «Wir stehen auf einer Kreuzung von unterschiedlichen Traditionen: skandinavisch, slawisch, deutsch. Die Schweden singen leicht und fein, die Russen mächtig. Und die Deutschen sind technisch sehr versiert, haben aber wenig Ahnung, wie Musik schmeckt. Wir Letten aber bringen alles zusammen.»
Gelebte Sprache und Kultur
Vielleicht ist das Liedfestival ein Beispiel gelebter Demokratie – vielleicht eine Utopie der Letten nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft. Chormanager Maris Oslejs sagte uns einst: «Lettland war immer Spielball der Grossen. Aber unsere Sprache und Kultur waren und sind der feste Grund unseres Seins.»
Kurz vor dem Nationalfeiertag, 100 Jahre nach der ersten Staatsgründung am 18. November 1918, wird man in Zürich und Chur eine Ahnung der Liedkultur dieses kleinen Landes erhalten.
Konzerte
Terra Choralis: Lettische und Schweizer Musik
Sa, 3.11., 19.30 Aula Kantonsschule Chur
So, 4.11., 17.00 Tonhalle Maag Zürich
www.terrachoralis.ch
Radio
Musikabend: Konzert aus der Tonhalle Maag
So, 9.12., 22.00 SRF 2 Kultur
CDs mit lettischer Musik
Peteris Vasks
Da pacem, Domine u.a.
(Ondine 2017)
Eriks Esenvalds
Choral Music: At the foot of the sky
(State Choir Latvija 2013)
Emils Darzins
State Choir Latvija
(VAKL 2015)
Lettische Klassikstars
Wo eine singende Basis ist, gibt es auch eine Spitze. So wenig Einwohner Lettland mit 1,95 Millionen auch hat, überproportional viele seiner Klassik-Interpreten spielen in der Champions League. Man hat mit Mariss Jansons und Andris Nelsons zwei Dirigenten unter den Top 5 der Welt. Elina Garanza, Marina Rebeka, Kristine Opolais und Aleksandrs Antonenko heissen die Opernstars; Gidon Kremer und Baiba Skride sind die Spitzengeiger. Iveta Apkalna ist eine der besten Organistinnen, Ksenija Sidorova ein Akkordeon-Star, Peteris Vasks ein weltweit gespielter Komponist.