Am Morgen danach der Gedanke: «Ach, wäre doch jedes Zürcher Konzert so!» Knatschvoll war die Tonhalle damals, im Januar 2016 gewesen – mit gedrängtem Verbindungsgang und Podiumsplätzen. Alles wartete gespannt auf den Hexer, auf den heute 45-jährigen Dirigenten Teodor Currentzis, dem der Ruf des Klassikretters vorausging, der keinen Konventionen folgt. Dann nervten während des Spiels über 1000 Details; in der Pause gab es heftige Diskussionen übers grosse Ganze – ebenso wie später zu Hause, als man erregt über diesen Spinner und sein sibirisches Orchester Musica Aeterna sprach, die das Zürcher Tonhalle-Publikum durchgeschüttelt hatten.
Es gibt nur ein Dafür oder Dagegen
Doch Currentzis dirigierte nicht leidenschaftlicher als andere; aber er entriss seinem Orchester Töne mit einem schier brennend erotischen Antrieb. Dennoch wurde man durchs Band enttäuscht, da mochte der Dirigent den Schlag der Pauken noch so heftig mit Fussstampfen festigen. Beethovens 5. Sinfonie verglühte unter seiner Hand, hielt dem Dauerdruck nicht stand. Das Werk sollte wie ein wilder Löwe brüllen und machte bloss miau.
Bei diesem Dirigenten gibts kein Dazwischen, nur ein Da-für oder Dagegen. Nicht, weil er auf dem Podium stampft oder pubertäre Totenkopfpantoffeln trägt, sondern wegen seiner Dirigate. Sie sind so schlecht, dass sie die Kritik auf Trab halten: Auf der eben vergangenen Europatournee reichten die Titel von «Durchgeknallte Mozart-Karikatur» bis «Gefühlte Lebensfreude aus der Kraftkammer».
Am Lucerne Festival dirigiert er nun zwei Konzerte; im Sommer wird er die Ära eines neuen Intendanten bei den Salzburger Festspielen eröffnen. Mehr der Ehre geht nicht. Immerhin ist anzumerken, dass der Grieche seine Mittel bestens zu nutzen weiss. Er versteht es perfekt, aus Mängeln Kunst zu schaffen. Das ist in der Musikwelt – ob im Pop oder in der Klassik – nichts Ungewohntes: Überraschendes, Effekthascherei oder vermeintlich neue Zugänge machen aus einer durchschnittlichen Interpretation rasch eine viel diskutierte, aus einer grauen Interpretenmaus einen viel bewunderten Papagei.
«Ich schuf mir eine Welt, keine Karriere»
Currentzis fällt neben seinen Dirigaten vor allem durch seine Distanzierungen auf. Er reagiert mit seinem Führungsstil, den Reden und der Kleidung auf festgefahrene Klassikbetriebszustände. Erstaunlich, dass die interpretatorischen Eigenheiten fast immer mit aussermusikalischen kombiniert werden: Mit einem grossen Maul, Kleidern oder Widerwillen gegen das Probendiktat.
Bei aller Extravaganz bleiben selbst Künstler wie der Popgeiger David Garrett innerhalb des Klassikbetriebs angepasst. Typisch: Als der geniale Punkgeiger Nigel Kennedy in Zürich mehr Proben mit dem Orchester verlangte, wurde ihm dieser Wunsch nicht erfüllt. Kennedy spielte darauf in einer Bar anstatt in der Tonhalle. Currentzis will so frei wie möglich arbeiten, baute sich aus diesem Grund im sibirischen Perm ein eigenes Musikreich. Die Kunst kennt hier keine Schranken. «Ich schuf mir eine Welt, keine Karriere, hier kann ich Dinge mit Menschen teilen», sagt Currentzis.
Alle Fäden in einer Hand
Perms Orchester spielt und säuft angeblich ohne Probeplan bis in die Morgenstunden. Nach eigenen Angaben fängt Currentzis erst dort richtig an zu arbeiten, wo andere aufhören. Nach getanem Werk trägt man die Resultate in den Westen, wo sie allerdings in den Betrieb eingebunden sind. Als Tournee-Orchester bedeutet das – spielen, spielen, spielen.
Im April 2016 arbeitete er für eine «Macbeth»-Produktion längere Zeit mit der Philharmonia Zürich zusammen – es wurde eine faszinierende Aufführung, weil Regisseur, Sänger und Dirigent an einem Strick zogen und so die Durchschnittlichkeit des Einzelnen beim Gang in den Abgrund überspielten. Mit krachenden Bässen, gedehnten Pausen, spitzen Bläsern und herbem Streicherklang führte Currentzis die Regie weiter.
Die Unmittelbarkeit des Live-Erlebnisses verblüffte, aber möchte man so etwas zu Hause als CD hören? Sony meint ja und macht für Currentzis alles, lässt ihn einen Mozart-Zyklus einspielen (Seite 22) – und das in einer Zeit, in der die Studio-Operneinspielung so selten geworden ist wie junge Menschen, die CDs kaufen.
Traurig, dass diese viel gelobten Einspielungen mit jeweils durchschnittlichen Sängern auskommen. Im «Don Giovanni» ist immerhin die vormals Currentzis mit Haut und Haar verfallene Simone Kermes verschwunden. Einst trat sie laut «Die Welt» gar wegen Current- zis der griechisch-orthodoxen Kirche bei. «Don Giovanni» war bereits mit ihr eingespielt, als sie ersetzt wurde. Hat da jemand gesagt, dass die Zeit der dirigierenden Diktatoren vorbei sei?
«Keine Konzentration, fühlt euch einfach frei!», ermahnt Currentzis die Musiker in einer Probe. Ehrlicher wäre, er würde sagen: «Vertraut mir taub», denn hier wird nicht mehr mit Wasser gekocht. Vielmehr will da einer übers Wasser schreiten. Bezeichnend der Wikipedia-Eintrag: «Teodor Currentzis ist ein griechischer Dirigent, Musiker und Schauspieler.»
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Lucerne Festival
Das Oster-Festival bietet vom Sa, 1.4.–So, 9.4., Konzerte, durch
die ein sakral österlicher Geist schwebt. Fast die Hälfte findet in den Kirchen, der Rest im KKL statt. Aussergewöhnlich: Am Do, 6.4., dirigiert Thomas Hengelbrock, der Dirigent des Elbphilharmonie-Orchesters, den Balthasar-Neumann-Chor & Ensemble in Bachs Johannes-Passion (Evangelist ist Daniel Behle), am Sa, 8.4., Mariss Jansons das «Requiem» von Wolfgang Rihm. Teodor Currentzis tritt zweimal, am Mi, 5.4., und Fr, 7.4., in Luzern auf.
Weitere Infos unter: www.lucernefestival.ch