Zwei Jahre unter einer Glaskuppel, abgeschottet von der Aussenwelt und in Gesellschaft von Tausenden von Tier- und Pflanzenarten: So müssen acht Mitstreiter das Überleben üben. Sobald die Schleuse geschlossen wird, kommt nichts mehr rein oder raus – weder Luft noch Medikamente noch Nahrung. Ziel der autarken Mission ist es, ein Leben auf dem Mars zu simulieren, sich mit Tierzucht, Fischfang und dem Anbau von Gemüse, Früchten und Getreide zu ernähren.
Die dunklen Seiten der US-Gesellschaft
So abgedroschen es klingen mag, dieses Vorhaben wurde in den 90er-Jahren im Süden der USA tatsächlich durchgeführt. In seinem neuen Roman «Die Terranauten» greift der Autor T.C. Boyle die Geschichte des wahnwitzigen Experiments «Biosphere 2» auf, für das ein Milliardär einen gigantischen Glasbau in der Wüste Arizonas errichten liess – Regenwald, Savanne, Ackerbaufläche und künstliches Meer inklusive.
Viel braucht Boyle in der Regel nicht, um in seinen Romanen menschliche Abgründe aufzuzeigen. Bewusst pickt er sich für seine Bücher Figuren und Milieus heraus, bei denen Konflikte und Katastrophen vorprogrammiert sind. Typisch ist etwa die drogenaffine Hippiekommune, die nach Alaska zieht («Drop City»). Oder die Geschichte eines blinden Passagiers aus Japan, der von einem Schiff springt und in einer versnobten Künstlerkolonie im US-Gliedstaat Georgia landet («Der Samurai von Savannah»).
Mit feiner Ironie und untrüglichem Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen porträtiert Boyle in seinen sorgfältig recherchierten Geschichten die amerikanische Gesellschaft und deren dunkle Seiten. Er scheut sich dabei nicht, wahre Begebenheiten auszuschmücken und kontroverse Persönlichkeiten aufzugreifen.
Meist scheitern seine Protagonisten grandios und geben dabei ihre innersten Gefühle preis. Auch die Terranauten stürzen sich Sektenanhängern gleich in ihr vermeintliches Glück und folgen dem Auftrag von «Gottvater», dem Schöpfer und Patron des Experiments. Doch das Leben in der Miniatur-Welt ist nicht paradiesisch, sondern vielmehr eine harte Probe für Körper und Wille.
In typisch boylescher Manier erzählen verschiedene Protagonisten ihre Versionen des Geschehens, die sich überschneiden, aneinander reiben und beissen. So bekommt der Leser einen Blick hinter die bröckelnden Fassaden: Zwei glückliche Auserwählte berichten aus dem Glashaus, eine übergangene Bewerberin schaut eifersüchtig hinein und wird zum Spitzel des Unternehmens «Mission Control». Dieses vermarktet den Versuch nach allen Regeln der PR: Vom Plüschtier der miteingesperrten Galago- Halbaffen bis zu geführten Besuchergruppen spült alles Geld in die Kasse.
Barfuss zurück zum Affen
Einer Soap-Opera gleich bringen One-Night-Stands, Streit ums Essen oder ein Autounfall in der Aussenwelt, der die Stromversorgung unterbricht, den Mikrokosmos ins Wanken. Als würde das nicht reichen, befeuert «Mission Control» bewusst Konflikte: Schmutz verkauft sich bekanntlich am besten.
Die anfänglich übermotivierten «Götter unter Glas» legen bald ihre Ferrari-roten Overalls und damit auch ihre Menschenwürde ab und waten barfuss durch den Dreck. Mit dem kollektiven Hunger treten Urinstinkte zutage: Dies reicht vom Essen der Erdnussschalen («enthalten Nährstoffe») bis zum Klauen von Bananen oder einer Handvoll Affenfutter («Proteine»). Präzise beschreibt Boyle den Abstieg der eingeschlossenen Akademiker-Truppe, den Neid und Missgunst begleiten. Dabei umschifft er mit seinem subtilen Witz allfällige Längen, die der Stoff bieten könnte. Und wenn sich zum allgegenwärtigen Hunger auch noch Wolken vor die Wüstensonne Arizonas schieben, geht den Terranauten wegen der fehlenden Fotosynthese buchstäblich die Luft aus. Da stellt man sich genau die Frage, die der Mutter einer Teilnehmerin sauer aufstösst: «Das ist alles grossartig. Mich würde bloss interessieren, ob es das wert ist.»
Buch
T.C. Boyle
«Die Terranauten»
608 Seiten
(Hanser Verlag 2017).