Auf der Probenbühne steht ein grosser runder Konferenztisch mit Mikrofonen. Davor haben sich 17 Tänzerinnen und Tän- zer versammelt. Meist bewegen sich nur einzelne von ihnen, in raschen und fliessenden Bewegungen, um gleich darauf zu erstarren, geradeso als wären sie Figuren eines Uhrwerks, die auf einen mechanischen Impuls reagieren. Eine Hand berührt die Schulter eines anderen und löst so eine Bewegungskette aus. Hochkonzentriert verfolgt Choreograf Marcos Morau die Szene. Dabei unterbricht er immer wieder mal, um eine Drehung oder die Richtung einer Bewegung zu korrigieren. Ausgangspunkt für sein Stück «Nachtträume» ist das legendäre, von Choreograf Kurt Jooss geschaffene Werk «Der grüne Tisch» von 1932. Zwischen den beiden Weltkriegen entstanden, thematisiert es die rücksichtslosen Eigeninteressen von Machtmenschen, deren Friedensverhandlungen von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. «Der grüne Tisch» ist als Antikriegsstück berühmt geworden. «Ich liebe dieses Werk», sagt Marcos Morau, «mich interessiert, wie ich seinen Kern ins 21. Jahrhundert übersetzen kann.» Der spanische Choreograf arbeitet mit Bildern, Symbolen und Träumen. Träume würden die Realität wie unter einem Brennglas vergrössern und verdichten, sagt er. Und so spielt Morau mit der Illusionsmaschine des Kabaretts. «Während wir hier feiern und glücklich sind, geht die Welt draussen in die Brüche», meint er. Die Menschen träumten, sie hätten die Kontrolle über ihr Leben, in der Gesellschaft und in der Politik. Doch die Wirklichkeit sei widersprüchlich und komplex. In «Nachtträume» geht Morau Fragen zu Macht und Machtlosigkeit aus verschiedenen Perspektiven nach. Es sind leise Provokationen. «Mit meinen Arbeiten möchte ich das Denken der Zuschauer ‹ins Wanken› und in Bewegung bringen.» Auf keinen Fall aber möchte er jemandem eine Meinung aufdrängen.
Faszination für Schatten und Licht
Moraus Bühnenwelten sind meist in Dunkel gehüllt. Schatten und Licht faszinieren ihn. Kontraste sowie die Widersprüchlichkeiten des Lebens fordern seine Kreativität heraus. Nebel und Schatten auf der Bühne hätten damit zu tun, dass er nicht etwas «zeigen», sondern gedankliche Assoziationen und innere Bilder auslösen wolle, erklärt Morau. Mit den dunklen Bühnensettings zeigt sich sein Hingezogensein zur Nacht und zu den Träumen, in denen unsere Logik ausser Kraft gesetzt ist. Moraus Faszination für Kontraste schlägt sich auch in seiner tänzerischen Sprache nieder. Sie wechselt zwischen weichen, geschmeidigen Bewegungsabläufen und Standbildern, in denen die Tänzerinnen und Tänzer wie eingefroren am Ort verharren. Diese unbewegten Momente hätten viel mit der Fotografie gemein, erläutert Morau. Denn er hat nicht nur Choreografie und Theater in Barcelona und in New York studiert, sondern auch Fotografie. «Die Fotografie hat meine Sinne sowohl für die Komposition und Perspektive eines Bildes geschärft als auch für den einen, bestimmenden Augenblick, den man mit der Kamera einzufangen versucht.» Dann, wenn nichts geschehe, könne sich eine besondere Präsenz einstellen. «Du stoppst, und in dieser Sekunde kann alles eine andere Richtung annehmen. » Der Tanz hingegen sei immer im Fluss und flüchtig.
Annäherung erfolgt schrittweise
Moraus Tanzstil mussten sich die klassisch ausgebildeten Tänzerinnen und Tänzer des Ballett Zürich erst aneignen. Zu Beginn veranstaltete der spanische Choreograf mit seinem Team einen Workshop, in dem es darum ging, das neue Vokabular kennenzulernen. Zusammen über zwei Monate ein neues Stück zu erarbeiten, sei ein bisschen wie eine Liebesbeziehung, meint Morau. Anfangs wisse man nur wenig vom anderen, man nähere sich einander schrittweise an. Zudem: «Mein Stil ist nicht organisch, und das kann für die Tänzer schwierig sein.» Es sei jeweils ein schöner Moment für ihn, wenn er spüre, dass die Compagnie bereit sei, Gewohntes zu verlassen. Für den Spanier ist es während des Probenprozesses wichtig, dass sich beide Seiten wohl fühlen. Seine Arbeit versteht er als Dialog. Der 40-Jährige hat sich in der internationalen Tanzwelt längst einen Namen gemacht und wird regelmässig als Gastchoreograf eingeladen. Schon 2005 hat er in Spanien seine eigene Tanzcompagnie La Veronal gegründet. Sie besteht aus Kunstschaffenden verschiedener Sparten und zeigt auch Moraus grosse Affinität zum Theater, zu Film und zur Musik. Wenn er mit einer Gastcompagnie arbeitet, ist immer ein Teil seiner eigenen Gruppe mit dabei – auch jetzt im Probenraum des Ballett Zürich. Sie verfolgen die Arbeit, machen sich Notizen oder filmen eine Sequenz.
Herz, Augen und Ohren erreichen
Selber hat Morau nie getanzt, und das ist für einen Choreografen ungewöhnlich. Genau dies macht wohl seinen Zugang zum Tanz so besonders. In seine Stücke fliessen unterschiedliche Erfahrungswelten und künstlerische Zugänge ein. «In meinen Arbeiten möchte ich nicht nur den Verstand der Zuschauer erreichen, sondern auch das Herz, die Augen und Ohren», sagt Morau dazu. Auch Texte hätten poetische Kraft, aber sie seien, im Gegensatz zum Tanz, in der Aussage konkret. Moraus Welt ist jene der Abstraktion und Suggestion, eine Kombination aus verschiedenen künstlerischen Elementen. Wenn man Morau in der Probe zusieht, erstaunt seine Präzision, mit der er Bewegungen vorgibt. Manchmal macht er selber eine Schrittfolge vor, springt hoch und dreht sich in der Luft. Wie im Film üblich, kommt Morau mit einer Art Storyboard, mit Zeichnungen, in die Probe. Er weiss genau, was er an Schrittmaterial will und hat den «Tonus» der kommenden Szene verinnerlicht. Der Rest aber, erzählt er, entstehe in der realen Probensituation. Es ist ein Finden und Verwerfen von Ideen, zusammen mit seinen Tänzerinnen und Tänzern. Am Schluss entstehen jene expressiven Bildwelten, die so typisch sind für Marcos Morau.
Nachtträume
Premiere: Fr, 30.9., 19.00
Opernhaus Zürich