Im ersten Pandemiejahr waren die darstellenden Künste auf Eis gelegt: Auftritte vor Publikum waren abgesagt, und das tägliche Training fand per Zoom in den Wohnstuben der Tänzerinnen und Tänzer statt. Auch die britischen Choreografen Cathy Marston und Ihsan Rustem waren vom allgemeinen Stillstand betroffen. Wie so oft entstehen aber in herausfordernden Zeiten auch ausserordentliche Ideen. Die zwei seit langem befreundeten Künstler hatten den Einfall, eine eigene Company zu gründen. «Es war eine lustige Idee», lacht Rustem und fügt etwas ernster hinzu: «Es war ein Traum, den wir hatten.» Naiv seien sie gewesen, meint Marston und muss ebenfalls schmunzeln. Denn an all das Organisatorische und Administrative im Zuge einer Company-Neugründung dachten sie anfangs natürlich nicht. Auf einmal waren sie mit Fundraising konfrontiert. «Wenn du als Gastchoreografin eingeladen bist, musst du dich nicht mit finanziellen Fragen herumschlagen», meint Marston. Die beiden Choreografen hatten Glück, denn die künstlerische Leiterin des Festivals Steps zeigte Interesse an einer Koproduktion. «Mit Steps an Bord vereinfachte sich vieles», sagt Rustem.
Das war im Spätsommer 2020. Mit dem Theater Winterthur und dem Tanzwerk 101 (Höhere Fachschule für Zeitgenössischen und Urbanen Bühnentanz Zürich) fanden sich zwei weitere Co-Produktionspartner. Damit konnten Marston und Rustem mit der Planung und der Suche nach Tänzerinnen und Tänzern loslegen. Zuerst aber verpflichteten sie zwei weitere Choreografen, den Italiener Luca Signoretti und die Britin Caroline Finn. Wie Marston und Rustem haben diese ihren Wohnsitz in der Schweiz, unterrichten und choreografieren sowohl hier als auch im Ausland.
Eine kollektive Arbeitsweise ausprobieren
Marston und Rustem wollten etwas Neues wagen, gerade auch angesichts der pandemiebedingten Isolation, und eine kollektive Arbeitsweise ausprobieren. «Für uns war von Anfang an klar, dass wir eine Community bilden wollten, eine Art Familie», sagt Marston, und Rustem ergänzt: «Indem wir einander beim Choreografieren assistieren, lernen wir voneinander.» Die Entscheidung, im Quartett ein einziges Stück zu kreieren, ist neu und nicht ohne Tücken. Dass sich die vier seit längerem kennen, federt das Risiko sicherlich etwas ab.
Das neue Stück «8» besteht aus acht Duos. Jeder der beteiligten Choreografen gestaltete zwei davon. Dafür haben Marston und Rustem acht Tänzerinnen und Tänzer engagiert. Diese wurden nicht wie allgemein üblich über eine öffentliche Ausschreibung gefunden, sondern per Instagram, Facebook und das persönliche Adressbuch. Denn die beiden Choreografen sind mit der heimischen Szene bestens vernetzt. Auch hier hatten sie klare Vorstellungen. «Wir suchten Leute mit unterschiedlichem tänzerischem Hintergrund sowie Alter», erzählt Marston, «die Trennung zwischen Institution und freier Szene interessiert uns nicht.» Mit dem Resultat, dass einige der aktuellen Company-Mitglieder Ballett-Erfahrung mitbringen, andere wiederum aus dem Streetdance oder von dazwischen, «in between», stammen. Entscheidend waren das Können, die stilistische Diversität und die Persönlichkeit. Unter den Tänzern finden sich auch noch ganz junge Leute, die erst kürzlich ihren Abschluss am Tanzwerk 101 gemacht haben. Nicht nur künstlerisch, auch menschlich sollten die neuen Company-Mitglieder zusammenpassen, so das Credo von Marston und Rustem.
Inspiriert von Arthur Schnitzlers «Reigen»
Jeder Tänzer steht im Stück für einen bestimmten Charakter. Inspiriert ist es von Arthur Schnitzlers «Reigen», einem Theaterstück, das vor etwas mehr als 100 Jahren erschienen ist und mit seiner sexuellen Thematik einen Skandal hervorgerufen hat. Im Stück «8» geht es zwar auch um Begehren und Liebe, nicht aber um eine Interpretation des Schnitzler-Stücks. Ganz am Anfang ihres Projekts, erzählt Marston, sei die Idee von Duos gestanden, erstmals ohne einen bestimmten inhaltlichen Bezug. «Mit dem ‹Reigen› haben wir eine thematische Klammer und gleichzeitig eine einfache Struktur für unsere acht Figuren gefunden», so die Choreografin. Wie bei Schnitzler treffen in jeder Dialogszene zwei Menschen aufeinander. Sie treten auf und ab wie auf einem sich drehenden Karussell. So war auch der Name der Company geboren: La Ronde, der Reigen.
Ab 2023 künstlerische Leiterin am Ballett Zürich
«Sowieso kann ich nicht ohne einen emotionalen Bezug, eine Geschichte, choreografieren», sagt Marston. In ihrer Karriere hat sie zahlreiche literarische Vorlagen für den Tanz adaptiert. Ihre Biografie zeigt eine eindrückliche Liste international renommierter Ballettcompanys auf, mit denen sie zusammengearbeitet hat. 2023 wird sie ihre neue Stelle als künstlerische Leiterin vom Ballett Zürich antreten. Hat sie, als sie mit Rustem zusammen die neue Company gründete, schon von ihrer Wahl gewusst? «Nein», lächelt sie und lässt offen, ob sie dann noch Zeit für die Cie. La Ronde habe. Das Ensemble ist eh als ein flexibles Modell mit flachen Hierarchien konzipiert worden. Es wird von vielen Leuten engagiert mitgetragen und wird sich, so oder so, weiterdrehen.
Der Schweizer Tanz ist international
Nachdem die letzte Ausgabe des biennalen, vom Migros-Kulturprozent ausgerichteten Tanzfestivals Steps nicht im gewohnten Rahmen stattfinden konnte, nimmt der grosse Dampfer in seiner 18. Ausgabe wieder volle Fahrt auf. Eröffnet wird mit «Wonderful World» in St. Gallen, einer Uraufführung und erstmaligen Zusammenarbeit von Kinsun Chan und Martin Zimmermann. Neun Produktionen gehen unter dem Leitthema «Neue Perspektiven» durch alle vier Landesteile auf Tournee. Neu liegt der Schwerpunkt auf Schweizer Produktionen und Bezügen.
Steps
Do, 28.4.–So, 22.5.
www.steps.ch