Unersättliche Neugier treibt sie um. Sie ist eine Künstlerin, die gerne hinter die Vorhänge blickt. Das tut sie bis heute, engagiert und mit grossem Furor. Ihre Arbeiten sind politisch motiviert, ohne belehren zu wollen. Dafür sind sie zu sinnlich und zu raffiniert in ihrer Dramaturgie. In ihren Produktionen zwischen Tanz und Theater – inzwischen sind es mehr als 22 eigene Inszenierungen – wechseln die Perspektiven, klug und manchmal maliziös. Immer geben sie den Blick auf Unerwartetes frei.
Das kommt bei Waldmann glücklicherweise humorvoll und unterhaltsam daher. Ihre letzte Arbeit setzte sich mit den ausbeuterischen Produktionsverhältnissen der Kleiderbranche auseinander. Dafür reiste die Tanzregisseurin nach Bangladesh, sah sich in den Fabriken um und führte Gespräche mit den Näherinnen. Daraus entstand 2015 «Made in Bangladesh». Helena Waldmann castete vor Ort, in Dhaka, zwölf Kathak-Tänzerinnen und -Tänzer. Wie im Takt und Wettstreit mit den wild ratternden Nähmaschinen stampften deren Füsse auf den Bühnenboden. Im zweiten Teil des Abends kehrten sich die Verhältnisse um. Im Fokus standen jetzt die prekären Arbeitsverhältnisse der Tanzschaffenden. Das Stück tourte international und war in Dhaka selber zu sehen. In Deutschland wurde es für den bedeutendsten deutschen Theaterpreis «Der Faust» nominiert.
Waldmann ist eine etablierte Künstlerin. Der Tanz ist ihre grosse Faszination. Sie selbst ist keine Tänzerin, sondern hat Angewandte Theaterwissenschaften in Giessen studiert. «Wenn Tanz richtig gut ist», sagt die 54-Jährige, «dann ist er sehr ehrlich. Es gibt nur wenige Schauspieler, denen ich glaube, was sie sagen.» Tanz hingegen, meint sie, reiche über Worte hinaus und spreche das Unbewusste an.
Ihre Stoffe sucht Waldmann nicht, sie stösst auf sie, zufällig oder auch nicht. Als passionierte Reisende hat sie diese in Indien, im Iran oder in Palästina gefunden. Immer aber schafft sie es, zwischen diesen «exotischen» Themen und der eigenen Realität einen Bezug herzustellen. Die Welt ist längst zum globalen Dorf zusammengewachsen, die Unterschiede allerdings bleiben bestehen – hier die Glücklichen, dort die weniger Begünstigten.
Ungerechtigkeiten anprangern
Die Idee zu ihrer neuesten Arbeit «Gute Pässe, schlechte Pässe» kam ihr beim Reisen. «Mit meinem deutschen Pass komme ich problemlos über die Grenzen. Viele meiner nicht deutschen Bekannten und Künstlerfreunde hingegen bleiben am Schalter kleben und müssen sich demütigenden Prozeduren unterziehen», erzählt Waldmann. Das macht sie wütend.
Mit Tänzern und Artisten Unterschiede ausloten
Was also ist es, was aus dem einen Pass einen guten und aus dem anderen einen schlechten macht? Genau das will Waldmann in ihrem neuen Stück herausfiltern. Dazu suchte sie vier zeitgenössische Tänzer und eine gleiche Anzahl Artisten aus dem Nouveau Cirque. Für sie, die selber keine eigene Company hat, ist das Casting ein entscheidender Teil des Arbeitsprozesses. «Da sind zwei komplett verschiedene Kulturen zusammengekommen, obwohl beide mit ihren Körpern arbeiten», erzählt Waldmann.
Dieses unterschiedliche Selbstverständnis von Tänzern und Akrobaten nahm die Regisseurin als Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Sie wollte sehen, wie verschieden beide Gruppen auf ihre Aufgabenstellungen in den Proben reagierten. «Wenn ich ein Thema vorgab, offerierte mir der Akrobat in Sekundenschnelle eine erlernte Nummer aus seiner Trickkiste. Dagegen sind sich die zeitgenössischen Tänzer gewohnt, lange auszuprobieren, bis sie zu einem befriedigenden Ergebnis kommen.» Genau diese handfesten Unterschiede brauchte Waldmann, um ihre Geschichte zu bauen: «So wie wir in den Proben zuerst eine gemeinsame Sprache finden mussten, ergeht es auch Menschen, die zu uns in den Westen kommen.»
Im Stück gibt es eine dritte Gruppe: Laien, die jeweils vor Ort rekrutiert werden und denen auf der Bühne die Aufgabe zukommt, eine lebende Mauer, eine Grenze, darzustellen. Es geht darum, wie Menschen andere kontrollieren. Ein weiteres künstlerisches Mittel von Waldmann im neuen Stück ist das Aussortieren nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. Damit greift sie die Willkür von Klischees auf. «Nehmen wir das Beispiel mit der Haarfarbe», führt Waldmann aus. «Als Rothaarige gehörst du zu den Hexen, als Blondine zu den Doofen und als Grauhaarige zu den Alten. So krass lassen sich Kriterien ausdeuten, jenseits der Individualität.» Waldmann muss lachen, sie hat inzwischen selbst graue Haare.
Den aktuellen Ereignissen weit voraus
Das Thema der Ausgrenzung hat durch die jüngsten politischen Entwicklungen in den USA neue Brisanz bekommen. Doch die Künstlerin war den aktuellen Ereignissen voraus; sie hat ihr neuestes Stück viel früher ausgebrütet. Was sie tut, hat bei ihr immer mit persönlichen Erfahrungen zu tun. Wie die meisten liest sie Zeitungen und hört Nachrichten. Doch auf ihren Reisen staunt sie jeweils, wie anders sich die Wirklichkeit zu den Medienberichten verhält. «Was sich nicht gut verkauft, darüber wird einfach nicht berichtet», sagt Waldmann trocken.
Darum wird sie weiter aufbrechen, reisen und sich umschauen. Erst aber geht es mit dem neuen Stück auf Tournee, auch nach Tel Aviv. Wie ihr Stück dort aufgenommen wird, darauf ist sie besonders gespannt.
Gute Pässe, schlechte Pässe
Di, 7.3., 20.00
Kurtheater Baden
Fr/Sa, 12.5./13.5., 20.00
Kaserne Basel