Was sich mit einem Tisch und einem Stuhl doch alles anstellen lässt, gerade auch auf einer Tanzbühne! Auch für Kinsun Chan, Chef der Tanzkompanie Theater St. Gallen, üben die beiden Möbel einen unwiderstehlichen Sog aus. In seinem jüngsten Stück «The Banquet» sind sie zentrale Elemente, inhaltlich und von der Ausstattung her. Kinsun Chan, der im englischsprachigen Teil Kanadas aufgewachsen ist, hat zuerst ein Studium in Kunst und Graphic Design absolviert, bevor er mit Tanzen angefangen hat. Seine Choreografien sind eng mit seinen Bühnenbildern verbunden – und umgekehrt. Eigentlich lassen sich die beiden Bereiche für ihn gar nicht wirklich trennen. «Ich bin ein visueller Mensch», sagt Chan von sich. «Ein Bild löst bei mir eine Flut von Geschichten aus.» So gestaltet er unabhängig von seiner choreografischen Arbeit immer wieder auch Bühnenbilder für Tanz oder Oper.
Auch in «The Banquet» stammt das Bühnenbild von ihm, in enger Zusammenarbeit mit Anja Jungheinrich. Stühle spielen eine grosse Rolle darin, so viel will Chan schon mal verraten. «Wenn Stühle reden könnten, sie würden viel zu erzählen haben von all den Menschen, die je auf ihnen Platz genommen haben», meint der Choreograf. Um eine grosse Vielfalt an verschiedenen Sitzmöbeln zu haben, schaltete das Theater ein Inserat, in dem es das Publikum aufrief, nicht mehr gebrauchte Stühle zu bringen.
Die Kindheit als Erinnerungsschatz
Der stille Hauptprotagonist im Stück ist ein über sieben Meter langer Tisch. Chan nennt ihn eine «magische Kiste», denn der Tisch wird so manche Überraschung zutage fördern. Eben schieben ihn die 16 Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie kräftig nach vorne. Sie proben in einer ehemaligen Seifenfabrik, dem auswärtigen Probelokal des Theaters St. Gallen. Aggressiv behauptet jeder der Tänzer seinen Platz an der Tafel, macht sich rücksichtslos breit, um möglichst das beste Stück eines imaginären Bratens zu erwischen.
«The Banquet» ist von jenem berühmten Monolog der Shakespeare-Figur Jacques aus dem Stück «Wie es euch gefällt» inspiriert. Darin werden sieben Lebensabschnitte, von der Kindheit bis ins hohe Alter, beschrieben. Ein Text, der poetisch zusammenfasst, was Kinsun Chans Kindheit als Summe ausmacht. «Ich bin in einem Restaurant aufgewachsen. Alles hat sich um den Tisch herum abgespielt», resümiert der Choreograf, «die Familie hat zusammen mit den Angestellten gegessen; dabei wurde angeregt geredet und diskutiert. Das ganze Leben von A bis Z war Thema, Liebesaffären genauso wie eine Geburt oder ein Todesfall.» Kinsun Chan ist sozusagen am Tisch gross geworden, unter dem er als Kleinkind gespielt und an dem er später seine Hausaufgaben gemacht hat. «Damals haben mich die Gespräche im Restaurant kaum interessiert, umso mehr aber das von der Mutter verpönte Cola und Frittiertes», lacht er. Heute, im Rückblick, nimmt Chan diese Kindheit als grossen Erinnerungsschatz wahr, der jetzt in seine neue Arbeit einfliesst.
Mit Gesten aus der Gebärdensprache
Ihm geht es aber nicht um Autobiografisches, sondern um urmenschliche, allen Kulturen gemeinsame Erfahrungen. Überall treffen sich Familienmitglieder und Freunde um einen Tisch und feiern ein Bankett. In der eben geprobten Szene rotten sich die Tänzerinnen und Tänzer als Gruppe zusammen. Diagonal bewegen sie sich im Gleichschritt nach vorne, ihre Haltung und ihr zielgerichteter Blick drücken wilde Entschlossenheit aus. In die Gegenwart übersetzt, ist es jener Abschnitt in einem jungen Erwachsenenleben, in dem die Zugehörigkeit zu einer Gruppe samt gruppenkonformem Denken die Identität bestimmt.
In die Bewegungssprache sind Gesten aus der Gebärdensprache eingeflossen, wie Chan erzählt. Es erinnert ihn an Tanz, wenn Gehörlose miteinander kommunizieren. Vor acht Jahren kam der Choreograf erstmals mit Gehörlosen in Kontakt, als er mit sieben gehörlosen Laien und vier Profi-Tänzerinnen an einem Projekt arbeitete. «Ich bin fasziniert von der Gebärdensprache. Sie ist sehr körperlich und lebt von einer starken Mimik.» Alles habe eine bestimmte Bedeutung. Genauso müsse auch jede Tanzbewegung eine Bedeutung haben, findet Chan. Nicht nur er als Choreograf, auch seine Kompaniemitglieder sollen verstehen, was sie auf der Bühne tun. Am Anfang einer bestimmten Körperbewegung oder Geste steht entweder eine Emotion oder ein Gedanke. Daraus entstehen Bewegungen und Körperbilder. Es ist eine abstrakte Sprache, offen für eigene Assoziationen und Gefühle. Für «The Banquet» hat sich Chan den Monolog von Shakespeares Jacques in Gebärdensprache übersetzen lassen, ein Vokabular, auf das er jetzt zurückgreift und von dem er sagt, dass er es endlos variieren könnte.
Das Publikum mag die Arbeit des Choreografen
Es ist bereits die dritte Saison, die Kinsun Chan als Leiter der Sparte Tanz am Theater St. Gallen bestreitet. Seit der ersten Spielzeit verfolgt die Presse seine Arbeiten mit grösstem Wohlwollen, das Publikum liebt seine bildstarken, visuell eigenwilligen Kreationen.
Apropos Lebensalter. Wie alt ist Chan eigentlich? Die Journalistin schätzt, dass er etwa in der Mitte seines Lebens steht. Doch der Choreograf winkt freundlich ab, sein privates Leben hält er vom Arbeitsleben prinzipiell getrennt. Jedenfalls steht Chan auf der Karriereleiter weit oben, auch die internationale Tanzszene beobachtet sein Schaffen interessiert. Wenn ab der Saison 2023/24 der Tanz endlich eine eigenständige Sparte am Theater St. Gallen sein wird, ist Chan vielleicht schon abgeworben und weg, einige Lebensstufen weiter.
The Banquet
Premiere: Sa, 15.1., 19.00
Theater St. Gallen (Um!bau)