Christine Gouzelis und Paul Blackman sind bekannt dafür, Tanzstücke gegen den Strich zu lesen. Nicht die Lust an der Provokation treibt sie an, sondern die Neugier, Altbekanntem neue Sichtweisen abzutrotzen. Im Probenraum des Theaters St. Gallen liegt neben dem Laptop ein Notizheft, eine Art Archiv: über die Jahre gesammelte Ideen und Erinnerungsfetzen, die jederzeit in ein neues Stück einfliessen können. «Es ist ein Sammelsurium an Bildern, eigenen Notizen und Zitaten», erzählt Gouzelis, «von denen wir uns inspirieren lassen und die uns manchmal aber auch vom Thema abschweifen lassen.»
Ganz bewusst allerdings, da das Choreografenpaar über die Umwege oft zu neuen kreativen Einsichten gelangt. Aktuell arbeiten sie an «Le sacre du printemps», einem der berühmtesten Werke der Musik- und Tanzgeschichte. Im Doppelabend «Skywards» ist ihr Stück «Sacre» nun nach dem ersten Teil «Maze» von Rebekka Gather, Javier Rodríguez Cobos und Frank Fannar Pedersen zu sehen (siehe Interview unten). Während «Maze» als spektakuläres Vertikal-Tanzstück draussen vor dem Theater St. Gallen in luftiger Höhe stattfindet, spielt «Sacre» im Inneren des Theaters.
Durch die zeitgenössische Brille interpretiert
Was von Anfang an klar war: Bei Gouzelis’ und Blackmans «Sacre» wird keine Jungfrau in einem archaischen Ritus geopfert. Aber auch bei ihnen geht es um Opfer, wenn auch durch die zeitgenössische Brille interpretiert. Blackman meint dazu: «Die Menschen opfern konstant ihre Zeit und Energien sowie ihre Freiheit.» Und seine Partnerin ergänzt: «Wir haben das Gefühl für die Zusammengehörigkeit, für eine tiefe menschliche Verbundenheit in der individualisierten Gesellschaft verloren und somit auch etwas Heiliges.»
Hier scheint der jahrhundertealte Ritus aus «Sacre» auf und gewinnt eine neue Bedeutung bei Gouzelis/Blackman: Solange unsere archaischen Gefühle in der Alltagsfalle verschüttet seien, fehle uns auch der Zugang zu tiefen Visionen. Auf der Probebühne stehen zehn Tänzerinnen und Tänzer, die mit angedeuteten Alltagsgesten Geschäftigkeit und Hektik ausdrücken.
Dagegen bewegen sich einige wie in Zeitlupe haarscharf am Abgrund, nur von der Hand einer Tanzpartnerin gehalten. Eine bewegliche Plattform in der ganzen Bühnenbreite kann sich rasend schnell nach vorne bewegen, aber auch in die Höhe wachsen. Eine Bewegungskraft, die fasziniert, aber auch ein Gefühl der Bedrohung aussendet.
Gouzelis und Blackman sind nicht nur ein eingeschworenes Choreografenteam, sondern auch privat ein Paar. Sie haben zwei Kinder, sechs und vier Jahre alt. So harmonisch, wie sie auf der Probe miteinander und mit dem Tanzensemble umgehen, sei es nicht immer, gestehen die beiden offenherzig. Wenn man eine Familie und oft international unterwegs sei und dabei alles unter einen Hut bringen müsse, könne es schon einmal krachen. «Diese Doppelbelastung fordert viel ab, aber sie gibt auch Energie zurück», meint Blackman.
Er ist gebürtiger Australier. Gouzelis ist in Griechenland geboren, lebte einige Jahre in Kanada, bevor sie wieder nach Athen zurückkehrte. Dort haben die beiden heute ihr Zuhause und ihre 2010 gegründete Kompanie Jukstapoz. In der Schweiz arbeiten Gouzelis/Blackman zum ersten Mal. Frank Fannar Pedersen, Leiter der Tanzsparte Theater St. Gallen, kennt ihre Arbeit und hat sie, beeindruckt von ihrer künstlerischen Risikobereitschaft, hierher eingeladen.
Erinnerung an die Gezeiten des Meeres
Risiko zeigt das Choreografenpaar auch mit seiner Musikwahl. Vom griechischen Komponisten mastroKristo haben sie das berühmte Werk Igor Strawinskys neu komponieren lassen. Das war nur möglich, weil mastro-Kristo eine frühere, nicht geschützte Version von «Sacre» verwendete. Doch warum nicht mit dem Original arbeiten?
«Mit der Komposition von 1913 wäre das für mich nur eine Konfrontation gewesen», erklärt Christine Gouzelis. «Jetzt ist es ein Austausch.» Sie fühle sich beim Choreografieren freier und höre in der hybriden Version ganz eigene Klänge, so auch urzeitliche, die sie an die Gezeiten des Meeres erinnerten.
Skywards
1. Teil: «Maze» von Rebekka Gather, Frank Fannar Pedersen und Javier Rodríguez Cobos
2. Teil: «Sacre» von Christine Gouzelis und Paul Blackman
Premiere: Do, 27.6., 19.30
Vor und im Theater St. Gallen
4 Fragen an Frank Fannar Pedersen
kulturtipp: An den St. Galler Festspielen hatte es schon Tradition, dass die Tanzaufführung jeweils in der Kathedrale stattfand. Dieses Jahr nicht, warum?
Frank Fannar Pedersen: Nach der dreijährigen Umbaupause sind wir endlich wieder zurück im Theater, und das wollte ich mit einem besonderen Projekt feiern: dem Vertikal-Tanzstück an der Fassade des Paillard-Baus, wo die hohen Betonmauern für einmal zur Bühne werden.
Der Tanzabend heisst «Skywards» und besteht aus zwei Teilen. Was ist die verbindende Idee?
Skywards bedeutet für mich nicht nur, den Blick himmelwärts zu richten, sondern weit mehr als das: Es geht um einen Perspektivenwechsel. Nach oben zu schauen in die Unendlichkeit des Blaus, lässt mich über Grenzen und die Zukunft nachdenken. Beide Stücke – sowohl «Maze» als auch «Sacre» – bringen neue Herausforderungen für das Tanzensemble mit und konfrontieren es mit seinen eigenen Grenzen. Dasselbe gilt für das Publikum. Das verbindende Element ist die Erweiterung des Raums und der Wahrnehmung.
Sie haben für «Sacre» das Choreografenpaar Gouzelis/Blackman eingeladen. Was schätzen Sie an ihrer Arbeit?
Mich fasziniert ihre kinematografische Herangehensweise: schnelle Wechsel, epischer Soundtrack und die Fähigkeit, auf der Bühne Details gut sichtbar heranzuzoomen.
Mit «Skywards» geht Ihre erste Saison am Theater St. Gallen zu Ende. Was haben Sie sich für die neue Spielzeit grundsätzlich vorgenommen?
Ich möchte weiterhin aufregende, zukunftsweisende Tanzprojekte entdecken und umsetzen. Mir ist es ein Anliegen, zeitgenössischen Tanz zu programmieren, der die Menschen verbindet, mit sich selbst und mit anderen. Dies ist das Herzstück unserer Arbeit. Darüber hinaus wünsche ich mir, das starke Fundament mit der Stadt weiter auszubauen und die Tanzkompanie schweizweit bekannt zu machen.
19. St. Galler Festspiele
Neben Tanz und Konzerten ist an den 19. St. Galler Festspielen auch die Komödie «Extrawurst» von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob zu sehen. Ein weiteres Highlight ist die Oper «The Fairy Queen» von Henry Purcell, eine Liebes- und Verwechslungskomödie, die für einmal inmitten der Naturkulisse des Flumserbergs auf 1400 Metern spielt.
St. Galler Festspiele
Bis So, 7.7.
www.konzertundtheater.ch