1956
Eine junge Frau steht in der Küche neben dem holzbefeuerten Herd und liest ein Buch, während sie darauf wartet, dass das Wasser kocht.
1979
Ein Mädchen sitzt auf der Steinstufe des Klosters und blättert in einem Buch, während ihm ein anderes Mädchen neugierig über die Schulter schaut.
2007
Eine Frau sitzt auf dem Boden im Zimmer, drei Kinder drängen sich dicht an sie und stecken ihre Nasen in ein Bilderbuch, aus dem sie ihnen vorliest. Drei harmonische Bilder, die Ihnen vielleicht sogar bekannt vorkommen. Denn, wenn Sie hier sind, können Sie fliessend lesen und finden es richtig, dass Kinder es lernen. Mit gutem Grund! Wer in der Kindheit Bücher kennen und lesen lernt, wird empathischer und klüger, als Erwachsener gesünder sein und erst noch mehr verdienen. Alphabetisierung ist der kürzeste Weg zur Prosperität eines Landes. Aber trotz glasklaren Ergebnissen jahrzehntelanger Forschung schaffen es die notwendigen Massnahmen nicht auf die politische Agenda der Schweiz.
Das muss sich ändern. Am Punkt globaler Polarisierung und sichtbarer Erstarkung autoritärer Systeme ausgerechnet das vertiefte Lesen preiszugeben, wäre verheerend. Lesen ist ein wichtiger Antrieb auf dem hürdenreichen Weg zum Kompromiss. Dennoch stellen wir es gerade heute in unserer direkten Demokratie zur Disposition. Nicht, weil unserem Land die Mittel oder die Verlage fehlen. Bloss weil wir gerade vergessen, uns darum zu kümmern.
Und wenn Sie das übertrieben finden, schauen Sie sich bitte die Entwicklung der Ergebnisse aus den Pisa-Studien der letzten 20 Jahren an. Achten Sie neben der Lesefähigkeit auch auf die Lesefreude, die abnimmt. Das ist nicht schade, das ist bedrohlich. Am Beispiel Sport lässt sich veranschaulichen, dass Massnahmen wirken.
Wird die Bevölkerung zu schlapp, greift die Politik ein, verordnet Turnunterricht durch nationale Rahmenlehrpläne und erlässt Gesetze zum Vollzugsnotstand, der unter Aufbietung sämtlicher kommunaler und kantonaler Kräfte in sportlicher Frist überwunden wird, beispielsweise durch den Bau neuer Sportanlagen. Die Bevölkerung trägt solche Schritte mit, sei es aus volkswirtschaftlichen oder kompetitiven Überlegungen, aus Freude am Verein oder an der Eröffnungsparty. Jedenfalls völlig zu Recht.
Beim Lesen hat das bislang nicht funktioniert. Wers braucht, wirds schon lernen, scheint die landläufige Meinung zu sein. Leseförderung ist nicht nur deshalb eine Marginalie in der Politik, weil es die Volksvertreterinnen und -vertreter zu wenig interessiert, sondern auch, weil der Souverän anderes priorisiert. Natürlich stellen Kindergärten und Schulen Bücher zur Verfügung, selbstverständlich werden viele Kinder in Bibliotheken begleitet oder in die Buchhandlung mitgenommen – aber noch viele mehr eben nicht. So bleibt die Begegnung mit Büchern dem Zufall der Geburt überlassen.
Dass es anders geht, zeigen unsere Nachbarländer: Da sind aktuelle Bücher oft per Gesetz Teil der Vorschulen, Schulen und anderer Institutionen, die Kinder besuchen. Österreich etwa ermöglicht auf Bundesebene kostenlose Schulbücher für jedes Kind, die regional vor Ort bezogen werden müssen. Das gibt Kindern einen ganz anderen Zugang zu Büchern, weil sie deklarierter Teil der Erziehung sind und nicht ein regional und familiär unterschiedliches «Nice to have».
Vielleicht denken wir, das färbe dann schon auf uns ab? Manchmal könnte man es fast meinen. Verlage bekommen in der Schweiz die geringste Strukturförderung: 94 Verlage aus dem ganzen Land teilen sich 1,8 Millionen Franken im Jahr. Das vergleichbar grosse Österreich mit nur einer Amtssprache setzt dafür im gleichen Zeitraum fast das Doppelte ein. Es geht dabei nicht allein um den Betrag. Es geht um ein Ziel und um Haltung – nichts zu tun, ist auch eine Entscheidung.
Aber wissen wir, was wir tun und warum? Oder verlernen wir mit dem Lesen gerade eine Kompetenz, um die unsere Vorfahren hart gekämpft haben? Ab der Reformation war es unter anderem das Ziel, die Lesefähigkeit der breiten Bevölkerung (für die Bibellektüre) zu fördern – ein halbes Jahrtausend lang und über viele Kriege hinweg. Aber so weit müssen wir gar nicht zurück, um die Relevanz der Lesekompetenz und deren Wirkung auf unser Leben zu verstehen.
Die junge Frau von 1956 war meine Mutter. Ihr Vater, der Pächter, hatte sie vom Feld nach Hause geschickt, weil sie beim Wenden des Heus die Geschwister zum Lachen gebracht und den Arbeitsfluss gestört hatte. So musste sie aus dem wenigen, das sie hatte oder am Wegrand fand, eine Mahlzeit zubereiten, um sie den Hungrigen aufs Feld zu bringen. Die kurze Zeit allein nutzte sie, um ein Buch von Ludwig Ganghofer zu lesen, welches ein Nachbar, der zum Studieren in die Stadt ziehen durfte, zurückgelassen hatte.
Das Mädchen auf der Stufe vor dem Kloster im Himalaya 1979 bin ich selbst. Ich blättere im «Heidi» von Johanna Spyri, in der Ausgabe von «Gute Schriften Basel» mit 13 Bildern von Hedwig Spörri. Ich gehe ganz bewusst von Illustration zu Illustration. Das einzige Buch in meiner Lesesprache, das ich besitze, gebe ich niemals aus der Hand. Das tibetische Mädchen hinter mir, das mich schon seit Tagen anbettelt und mir allerlei zum Tausch anbietet, muss vorliebnehmen mit dem, was ich ihr zeige.
Die Frau, die 2007 auf dem Boden sitzt und eine Geschichte erzählt, ist meine Schwester in der Ausbildung zur Heilpädagogin. Die drei Kinder, die an ihr kleben, sind in der Jugendpsychiatrie. Sie haben Missbrauch erlebt, es fehlt ihnen der Halt; Nähe und Distanz sind eine riesige Herausforderung. Es ist Ostern, und die Kinder wollen endlich wissen, über welche Kanäle die Osterhasen im Bilderbuch «Die Hasenpost» von Siglint Kessler und Jan Zberg ihre Leckereien verteilen.
Alle drei Situationen strahlen trotz ihren im Grunde prekären Hintergründen Harmonie aus. Analoges Lesen ermöglicht uns, gleichzeitig in der Welt, bei anderen und bei uns zu sein. Ein wertvolles Geschenk, das wir be- kommen haben, um es weiterzugeben. Unabhängig von Herkunft, offen für die Zukunft.
Zur Person
Tanja Messerli wurde 1969 geboren und absolvierte eine Lehre zur Buchhändlerin. Sie blieb dem Beruf in verschiedenen Funktionen treu – als Berufsbildnerin, Marketingverantwortliche, Geschäftsleiterin. Sie war Fachlehrerin für den Buchhandel und von 2007 bis 2020 Schulleiterin in einer Berufsfachschule. Seit 2020 ist sie Geschäftsführerin des Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verbands (SBVV). Sie hat einen erwachsenen Sohn und lebt mit ihrem Mann in Bern und Kloten.