Ich wohne in Zürich und bin oft mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, mit dem Tram, dem Bus, auf dem Weg zum Bahnhof, zum Zug. Da ich dabei meistens nur eine geräumige Handtasche und keinen Koffer trage, identifiziert man mich offenbar als ortskundig. Auf jeden Fall fragen mich viele Touristen nach dem Weg.
Kürzlich sprachen mich in der Bahnhofshalle, schräg unter dem Engel von Niki de Saint Phalle, zwei Herren in Anzügen an, «Excuse me», sagten sie und erkundigten sich, wo die «Oldtown» sei. Ich wies mit der Hand Richtung Hauptausgang, sagte: «Geradeaus und dann rechts», zum «famous Niederdörfli», und sie sagten, sie seien von England, seit einer Weile unterwegs und hungrig, ein Meeting stünde ihnen auch noch bevor. Ich wies noch einmal in dieselbe Richtung, sie griffen nach ihren Rollkoffern und gingen davon – ich sah ihnen nach und hatte ein seltsames Gefühl.
Bald darauf fragte mich eine Frau im Shopville im Hauptbahnhof, wie sie zur Europaallee komme. Sie trug einen Schal mit den Initialen eines Modehauses, ihr Parfüm roch nach über 200 Franken, und ich stellte mir vor, dass sie gleich eine Sitzung leiten wird. Ich wies sie zur Treppe, geradeaus und dann rechts, sie sah mir nur flüchtig in die Augen, hatte vielmehr schon das Ziel im Blick und ging davon, war den Weg noch nie gegangen, aber nahm ihn mit Verve. Ich war trotzdem etwas beunruhigt.
Einen Tag später war ich im Soussol der Bahnhofpassage bei der Sihlpost unterwegs, es war früh, die Pendler strömten, ich stand beim Brezelstand in der Schlange, als mich eine junge Frau ansprach – sie suchte das Tram Nummer 7. Ich schickte sie zur Treppe, hinauf zu den Gleisen, geradeaus und dann rechts. Sie sagte, ihr Handy gebe ihr eine andere Auskunft. «So, so», sagte ich, zuckte mit den Schultern, und sie ging in die Richtung, die ich vorgeschlagen hatte.
Ich dachte im Laufe des Morgens noch einige Male an sie. Sie war sorgfältig geschminkt gewesen. Und hatte nervös gewirkt. Vielleicht war sie auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch gewesen? Was, wenn sie doch besser ihrem Handy geglaubt hätte, wenn sie wegen mir zu spät zum Termin gekommen war und den Job nicht gekriegt hatte? Auch wenn ich mich nach den Wegerklärungen etwas schlecht fühlte, erinnerte ich mich: Alle, die mich nach dem Weg gefragt hatten, hatten sich bedankt, vielen Dank, thank you, und die Engländer hatten mir sogar die Hand geschüttelt. Dann waren sie losgezogen.
Etwas später.
«Das ist nie und nimmer das Niederdorf. Ich habe im Internet Bilder gesehen, das sieht ganz anders aus.»
«Vielleicht wurden die Fotos an einer anderen Stelle aufgenommen?» «Ich glaube nicht. Und auch wenn es Niederdorf heisst, sieht es nicht so dörflich aus wie hier, mit diesem Brunnen und der kleinen Kirche. Wir sind doch überhaupt nicht mehr in Zürich!»
William kratzt sich am Hinterkopf, Henry stützt sich auf den Rollkoffer. Sie sehen sich um. Auf der Parkbank sitzt eine Frau mit Schal. William geht zur ihr, Henry bleibt bei den Rollkoffern, auch wenn klar ist, dass man sich hier nicht vor Dieben fürchten muss.
«Entschuldigen Sie, sind wir im Niederdorf?»
«Keine Ahnung. Ich weiss nicht, wo ich bin. Ich wollte zur Europaallee.» Die Frau gefällt Henry. «Vielleicht ist das ja die Europaallee? Und ich bin übrigens Henry», sagt er.
Sie lacht auf: «Ernsthaft, so soll eine Europaallee aussehen? Und ja, hi Henry, Nicole ist mein Name.»
Schweigend betrachten sie den Brunnen, die Kirche, die Riegelhäuser rund um den Dorfplatz. Es ist ruhig, nur Vögel pfeifen, und es rauscht dezent, vielleicht ist ein Bach in der Nähe. Plötzlich hört man Schritte, Schuhe mit Absatz, zwischen den Riegelhäusern erscheint eine junge Frau, sie bleibt stehen, «Shit», sagt sie.
«Was ist?», fragt Nicole.
«Ich habe um 9 Uhr ein Vorstellungsgespräch und habe mich verlaufen. Wissen Sie, wo das 7ner-Tram fährt?»
Nicole zieht die Augenbrauen hoch und deutet mit der Hand auf den Dorfplatz, als wolle sie sagen: Schau dich doch um, hier wird noch in 100 Jahren kein Tram fahren.
«Wie heisst du?», fragt sie.
«Jewel.»
Die junge Frau setzt sich auf die Bank, sinkt förmlich in sich zusammen. Eine Weile schweigen alle. Dann schaut Jewel plötzlich auf und fragt: «Wie seid ihr eigentlich hierhergekommen?» Sofort reden Nicole, Henry und William alle durcheinander – gerade noch in Zürich … eine Frau hat den Weg gewiesen … geradeaus und dann rechts, hat sie gesagt – ist der Konsens.
«Kann es sein, dass die Frau uns alle hierhergeschickt hat? Also hingezaubert, so mit Magie?», fragt Jewel.
«Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.
Die Frage ist, wie wir wieder nach Zürich kommen», gibt William zu bedenken.
Die Diskussion zwischen den vier Leuten geht weiter. Leider kann ich das Gespräch nicht verfolgen, denn ich muss auf den Zug. Und denke darüber nach, wie ich reagieren sollte, falls ich gleich von jemandem angesprochen und nach dem Weg gefragt werde. Soll ich einfach sagen:
«Keine Ahnung, ich bin auch nicht von hier»? Offenbar bin ich ja absolut talentfrei, wenn es darum geht, Leuten den Weg zu weisen. Ich schicke sie bloss ins Nirgendwo, ins Irgendwo, ins Pfefferland vielleicht? Aber sicher nicht dorthin, wo sie hinwollen.
Später sitze ich im Zug, schaue aus dem Fenster und denke nach. Über die Welt, das Leben. Und über Jewel, Nicole, Henry und William. Und stelle fest, dass ich ein bisschen neidisch bin. Etwas neidisch auf das Quartett am Dorfplatz, von dem wir nicht wissen, wo er ist, und dass sie vielleicht für immer dort bleiben, wer weiss, und dass sie an diesem Ort ganz neu anfangen können.
Tanja Kummer
Tanja Kummer, geboren 1976 in Frauenfeld, ist gelernte Buchhändlerin und Erwachsenenbildnerin und hat beim Schweizer Fernsehen sowie bei Radio SRF 3 gearbeitet. Sie schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene und steht als Spoken-Word-Künstlerin auf der Bühne. Zuletzt ist ihr Bilderbuch «Anna und die Nacht» mit Illustrationen von Daniela Rütimann erschienen. Die Autorin lebt in Zürich.
www.tanjakummer.ch