Marinas Tage sind nach dem Radioprogramm geordnet. Nach der Morgengeschichte geht sie duschen, und ist sie noch zu Hause, wenn das Regionaljournal beginnt, muss sie sich beeilen, um rechtzeitig im Büro zu sein. Rolf ist das in den ganzen 16 Jahren vielleicht gar nie aufgefallen. Und auch nicht, dass sie immer den letzten Satz, der in der Presseschau gesagt wird, zu ihrem Satz des Tages macht und darüber nachdenkt, was er für sie bedeutet und was er mit ihrem Leben zu tun haben könnte. Heute, an diesem tüppigen Mittwochmorgen, lautet er: Bei der Demokratie handelt es sich um ein höchst lebendiges Projekt. Ausnahmsweise weiss Marina ganz genau, worauf sich der Satz bezieht: Ihr Chef liess darüber abstimmen, ob im Büro am nationalen Nachhaltigkeitstag auf Strom verzichtet werden soll. Nur eine Kollegin war dagegen:
Ohne Computer? Ohne Telefon? Ohne mich!
Die andern waren begeistert, schliesslich ist Nachhaltigkeit ein Teil ihrer Arbeit: Sie weisen Touristen auf die uralten Sehenswürdigkeiten der Stadt hin. Auf den Brunnen mit der steinernen Fortuna auf der Säule, das Denkmal beim Bahnhof, die Burgruine, das Moor. Diese Schönheiten müssen nur richtig angepriesen werden, dann werden sie auch gut besucht und die Stadt braucht keine neuen extravaganten Türme, Brücken oder andere Bauten, die bei ihrer Entstehung nur Ressourcen schlucken. Der frühere Chef hätte sich für die Idee eines Nachhaltigkeitstages nie und nimmer begeistern lassen. Der neue Chef kam zeitgleich mit der Trennung von Rolf und Marina vor einem Jahr. Sie wollte es im Büro nicht ansprechen. Aber den Kolleginnen fiel auf, dass Rolf sie nicht mehr abholte. Sie fragten nach und staunten:
Um Himmels willen – warum trennt man sich nach so langer Zeit von seinem Partner?
Marina sagte ausweichend: Es war halt nicht die grosse Liebe.
Dabei wusste sie genau, warum sie sich von Rolf getrennt hatte. Sie hatte das Interesse an ihm verloren. Rolf war vom Mann zu einem Nebengeräusch in der Wohnung geworden. Dabei legten einem die Frauenzeitschriften doch ans Herz, dass man in einer Partnerschaft niemals, unter keinen Umständen, das Interesse aneinander verlieren dürfe. Aber wie macht man das, fragte sich Marina, als ihr schon alles egal war: Rolfs Meinung, seine Hobbys, sein Körper.
Die Arbeitskolleginnen hatten Rolf bald vergessen und frohlockten oft:
Wer weiss, vielleicht kommt heute deine grosse Liebe an den Schalter?
So auch heute. Marina lacht:
Es wäre besser, sie würde morgen kommen, ohne Strom haben wir sicher viel mehr Zeit für unsere Kunden.
So hektisch, wie es an diesem Tag im Büro zu- und hergeht, hat sie wohl recht – noch dazu das schwüle Wetter, das sich einfach nicht in einem Gewitter entladen will.
Nachhaltigkeitstag hin oder her: Natürlich stellt Marina am Donnerstagmorgen zu Hause das Radio ein. Denn auch ohne Käse ist es irgendwie wurst, heisst der letzte Satz der Presseschau. Marina streift der Gedanke, dass er mit Rolf zu tun haben könnte. Ihr Leben ist nämlich keinen Deut interessanter oder besser geworden, seit er nicht mehr da ist.
Im Tourismusbüro allerdings ist es ohne Strom interessanter. Die Computer können nicht angestellt werden, das Telefon klingelt nicht, man kann niemanden anrufen. Bei Fragen der Touristen sucht man nicht zuerst im Internet, sondern im Hirn, und findet man nichts, aktiviert man Netzwerke:
Gehen Sie zum Bäcker um die Ecke, der kennt die gesuchte Adresse.
Die Kunden bringen zum Dank Kaffee und Süssigkeiten vorbei. Es ist ein vergnüglicher Tag, der schnell vorbeizieht und erst, als sich der Himmel verdunkelt und ein Donner kracht, fragt Marina:
Wie spät ist es eigentlich?
Die Blicke suchen im Raum herum. Das Display der Wanduhr, von dem sonst giftiggrüne Zahlen leuchten, ist dunkel. Es läuft kein Computer, an dessen Bildrand man die Zeit ablesen könnte. Es bleibt Marina nichts anderes übrig, als mit einem Regenschirm bewaffnet zum Kirchplatz zu gehen, um sich am Zifferblatt zu orientieren. 19 Uhr. Das Team hat unwissend und lustvoll eine halbe Stunde zu lange gearbeitet.
Nun muss Marina pressieren, sie hat den Bus verpasst, den sie üblicherweise nimmt, und der nächste fährt gleich – sie muss ihn erwischen, sie will sich doch um 20 Uhr die Diskussionssendung im Radio anhören.
Unterdessen regnet es wie aus Kübeln. Als der Bus kommt, läuft das Wasser in Strömen über die Fensterscheiben, aber Marina erkennt trotzdem sofort, wer ihr schmunzelnd winkt.
Was machst du denn hier?
Fragt sie Rolf, als sie neben ihm Platz nimmt.
Ich fahre nach Hause – ich nehme immer diesen Bus.
Sie finden schnell ins Gespräch. Als sie bei Marinas Haltestelle sind, sind sie so vertieft, dass sie fragt:
Kommst du mit hoch?
Sie kocht für ihn. Die Diskussionssendung läuft zwar, ist aber nur ein Nebengeräusch. Sie trinken Wein. Sie sind entspannt, sie lachen viel. Irgendwann fragt Marina mit leichtem Zungenschlag, ob er je gemerkt hat, dass sie jeden Morgen einen Satz aus der Presseschau mitnimmt.
Nein, das habe ich nicht gemerkt. Warum machst du das?
Zeitgleich mit ihrer Antwort ist es Mitternacht und die Nationalhymne beginnt.
Sie wacht auf. Rolf werkelt in der Küche. Marina lächelt und lässt die vergangenen Stunden Revue passieren. Spannend wars. Warum haben sie sich während ihrer Beziehung nie etwas Abstand gegönnt? Sie konnte – und wollte! – Rolf endlich wieder klar sehen und hören. Als hätte sie sich beim Radiogerät durch die Sender gesucht, lange nur Rauschen und Klangfetzen gehört, und dann, unerwartet: Ihren Lieblingssender gefunden, klar und deutlich.
Rolf hat Frühstück gemacht. Es tut Marina leid, dass sie schnell essen muss, aber sie ist spät dran.
Geh nur, sagt Rolf, ich räume auf.
Danke!
Erst als sie an der Türe ist, fällt ihr auf, dass sie gar kein Radio gehört haben. Aber sie braucht doch noch ihren Satz des Tages!
Rolf! ruft sie. Er streckt den Kopf aus der Küche: Ja?
Sie schaut ihn an. Schaut ihn lange an.
Ach nichts, sagt sie dann, es ist alles in Ordnung. Es ist alles gut so.
Tanja Kummer
Tanja Kummer wurde 1976 in Frauenfeld geboren und liess sich zur Buchhändlerin ausbilden. Ihr erster Lyrikband «vermutlich vollmond» erschien 1997. Es folgten ein weiterer Lyrikband und zwei Erzählbände. Heute lebt die Autorin in Winterthur, schreibt Kolumnen für verschiedene Medien, arbeitet an zwei Büchern und ist mit Christine Lauterburg, Dide Marfurt und dem Programm «vergiiget – verjuchzed – verzapft» auf Tournee. Mit ihrem Mann, dem Kunstmaler Alex Zwalen, bildet sie das Künstlerduo alexalexandra.
www.tanjakummer.ch