Die Stille und der Schnee: Beides ist heutzutage rar geworden. In Hansjörg Schertenleibs Refugium an der Ostküste der USA, in dem er seit 2016 die meiste Zeit des Jahres lebt, gibt es von beidem zuhauf. Schneeberge türmen sich vor seinem abgelegenen Cottage. Und wenn er sich nicht gerade einen Weg freischaufelt oder durch die Wälder streift, verbringt er seine Tage lesend vor dem Kaminfeuer oder schreibend am Tisch mit Blick auf den Atlantik, aufmerksam beäugt von Katze Smilla.
«Ich will nicht dazugehören»
Die Einsamkeit und die vollkommene Stille – was für andere beängstigend wäre, ist für den 62-jährigen Schriftsteller eine Wohltat: «Ich will nicht dazugehören, ich will meine Ruhe», stellt er in seinem tagebuchartigen Buch «Palast der Stille» klar. «Ohne Netzverbindung mit der Welt» fühlt er sich aufgehoben in seinem «Zweimannzelt im Irgendwo, am Rand des Waldes, am Saum des Meeres», geborgen im Schreiben und in seinen Büchern. Er scheint den Tieren näher zu stehen als den meisten Menschen. «Du solltest nur noch von Tieren schreiben», scherzt seine Frau, die ihn zuweilen aus der Schweiz besucht.
In seinem Cottage hat Schertenleib Zeit und Musse, in sich zu gehen. «Diese Stille anzunehmen, in der man Dinge denkt, die einem sonst nicht einfallen wollen, und in der jeder Laut an Bedeutung gewinnt, ist eine Herausforderung», schreibt er. Oft lösen Geräusche oder Gerüche eine Erinnerung aus. Im Wechsel zwischen Ich und Er-Form zeichnet er so ein persönliches Bild von sich selbst: Das Aufwachsen in einfachen Verhältnissen in Zürich, mit zwei Schwestern, einer Mutter, die Zuflucht im Lesen findet, und einem Vater, der den Sohn nicht versteht. Seine Ausbildung zum Schriftsetzer, später die Zürcher Kunstgewerbeschule, erste eigene Texte, ermutigt durch Urs Widmer. Die Zürcher Jugendunruhen in den 80ern, als ihm bei einer Demo ein Polizist den Arm bricht. Später das Fussfassen in der Schriftsteller- und Theaterszene. Schliesslich wandert er nach Irland aus, wo er 20 Jahre lang Regen und Sturm trotzt, bis er kurz in die Schweiz zurückkehrt.
Eine Konstante ist sein Einzelgängertum, der kritische Geist, der in der Gesellschaftsverweigerung mündet. «Er will nicht alles und jeden nur mehr mit Ekel betrachten können, es macht ihn ungerecht, bitter und böse. Er will nicht länger effizient sein, strebsam, zwanghaft optimistisch und erfolgsorientiert, will nicht länger eingeschätzt und beurteilt werden …» Nebst dem Kreisen um sich selbst webt er Erzählungen ein, die den Blick gegen aussen auf andere Lebenswirklichkeiten richten. Etwa die Geschichte, die hinter seinem Holztisch aus dem 19. Jahrhundert steckt. Oder Kriegs- und Fluchtgeschichten, die er aber mit Selbstzweifeln betrachtet: «Was weiss ich über Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen?»
Im ruhigen Rhythmus der Poesie
Im Vordergrund dieses schmalen Büchleins, das mit seinem Leineneinband für ein sinnliches Leseerlebnis sorgt, stehen aber die Naturbeobachtungen, das stille Leben auf der Insel, die in sich gekehrten Tätigkeiten des Autors. Mit seinen Beschreibungen im ruhigen Rhythmus der Poesie verklärt Schertenleib das naturnahe Leben nicht, vermag aber durchaus die Sehnsucht nach dem einfachen Leben fern von Hektik und Lärm zu wecken. Pate stand ihm zweifellos der Naturphilosoph Henry David Thoreau, der am Anfang und Ende seines Buchs auftaucht. Am Schluss kommt Schertenleib nach einer Wanderung durch den tief eingeschneiten Wald am Ziel an: auf seinem Ausguck in der Krone einer sachte wankenden Kiefer mit Blick auf den wilden Atlantik. «Ein Mann auf einem Baum.» Zufrieden mit sich alleine.
Lesung
Di, 3.3., 19.15 Aargauer Literaturhaus Lenzburg
Buch
Hansjörg Schertenleib
Palast der Stille
176 Seiten
(Kampa 2020)