Isaku Yanaihara stand in Paris kurz vor dem Abflug in seine Heimat. Da bat ihn Alberto Giacometti (1901–1966), ihm in seinem Atelier in Montparnasse Modell zu sitzen. Der Philosoph konnte dem Angebot nicht widerstehen und verschob seine Rückkehr im Herbst 1956 zuerst einmal – dann immer wieder. Giacometti arbeitete wie ein Besessener an seinen Werken; zahlreiche Skizzen, Ölporträts und Büsten entstanden.
Selbsterfahrungstrip mit amourösem Intermezzo
Isaku Yanaihara (1918–1989) empfand die Sitzungen in Giacomettis Atelier an der Rue Hippolyte-Maindron als einen Selbsterfahrungstrip. Er schrieb deshalb seine Erlebnisse nieder und veröffentlichte sie später in Japan: «Wir arbeiteten Tag und Nacht ohne Pause. Es war wichtig, dass es keinen Tag Pause gab. Giacometti vernachlässigte alle übrigen Verpflichtungen …» Der Künstler wies fast alle Besucher schroff ab, um sich nicht stören zu lassen. Er stand nie in einem leutseligen Ruf.
Das Verhältnis zwischen Künstler und Modell erfuhr nach einiger Zeit eine erotische Pikanterie. Denn zwischen Yanaihara und Giacomettis Frau Annette entflammte eine heftige Liebesbeziehung. Der Künstler störte sich nicht daran, zumindest aus der Sicht des Japaners: «Giacometti freute sich, dass Annette so fröhlich und voller Energie war. Unsere Dreierbeziehung wurde immer enger.» Giacomettis Freude sei «sicher nicht gelogen gewesen», versichert der Tagebuchschreiber. Denn der Maestro pflegte seinerseits ein freizügiges Leben.
Als Akademiker blieb der kunstaffine Japaner unbekannt. Er wandte sich nach seiner Rückkehr im Zweiten Weltkrieg dem Existenzialismus zu, übersetzte französische Schriften ins Japanische und kam zu Studienzwecken nach Paris. Die Begegnung mit dem 17 Jahre älteren Giacometti hatte für ihn allerdings negative berufliche Konsequenzen: Seine verzögerte Rückkehr und seine späteren Besuche in Paris schadeten seiner Hochschullaufbahn in Osaka.
«Der Wahrheit ein klein wenig näherkommen»
Der Japaner vermittelt dem Leser einen intensiven Einblick in die Arbeitsweise Giacomettis: «Zweieinhalb Monate hatte er mit mir als Modell ununterbrochen gearbeitet, und letztlich waren sechs Bilder herausgekommen.» An manchen Werken habe er nur kurz gearbeitet, von andern habe er sich fast nicht losreissen können: «Sein Ziel war es nicht, ein fertiges Bild zu schaffen, sondern der Wahrheit ein klein wenig näherzukommen.» Dabei litt der Künstler unter Qualen.
Die Vorstellung vom Künstler, der dem Wahnsinn nahe ist, mag klischiert sein. Im Fall Giacomettis ist sie indes plausibel, wenn man Yanaihara glauben darf: «Er war von der schrecklichen Angst besessen, dass seine immensen Mühen ganz und gar vergeblich sein könnten, dass er nie zu einem Ergebnis käme.» Auch deswegen flüchtete er sich in seine pausenlose, fast manische Arbeitsweise, die er erst spätabends unterbrach – um zu seinen Abenteuern aufzubrechen.
Buch
Isaku Yanaihara
Mit Alberto Giacometti
352 Seiten mit 68 Abbildungen
(Piet Meyer Verlag 2018)