Die Tür war aus dunklem Holz. Längs waren zwei Leisten mit Blumenranken eingeschnitzt. Ich durfte eintreten, ohne zu läuten. Auf der Matte im Vorraum strich ich den Dreck von den Schuhen, dann betrat ich das Entrée. Im Halbdunkel blieb ich stehen. Alle Zimmertüren waren verschlossen. Durch eine drangen helle Töne. Ich kannte die Melodie. Leise summte ich mit. Es hatte etwas mit der Nacht zu tun. Dann aber dachte ich an den Tag zuvor.
Ich hatte sie aus dem Restaurant treten sehen. Ich hatte die Hand halb zum Gruss erhoben, doch sie war zu weit weg gewesen. Sie ging auf der anderen Strassenseite, mit kleinen Schritten kam sie näher, ein schmaler brauner Rock, die hellen Waden blitzten hervor, der Oberkörper leicht zur Seite geneigt, der Kopf etwas schräg. Das kam wohl von der Frisur. Sie trug das Haar kurz und hatte einen Seitenscheitel. Auf der einen Seite lag das Ohr frei, auf der anderen Seite hing eine schwere runde Decke über dem Gesicht. Die Seite mit dem längeren Haar war zur Strasse gerichtet, sie würde mich nicht sehen. Das Haar würde ihr die Sicht versperren.
Wieder hörte ich die Melodie. Nur die linke Hand. Leise näherte ich mich der geschlossenen Tür. Ihre Stimme. Ich verstand sie nicht, aber es klang, als knurre ein kleiner Hund. Eine andere Stimme antwortete kurz. Es war die Stimme meiner Schwester. Sie spielte das «Nocturne». Zu Hause lagen die Noten immer aufgeschlagen auf dem Klavier.
Gestern war sie grusslos an mir vorbeigegangen, die Klavierlehrerin, mit kleinen raschen Schritten, die Mappe unter den Arm geklemmt, den Blick auf den Boden gerichtet. Und auch ich, als ich das Geräusch ihrer Absätze, die auf das Trottoir schlugen, hörte, denn immer trug sie halbhohe, dunkelbraune Schuhe, hatte den Blick gesenkt. Vielleicht hatte ich gesummt. Ganz bestimmt hatte ich gesummt, ich hatte gar meine Stimme erhoben, sie hätte es erkennen müssen. Ich konnte die Melodie gut, das «Nocturne» meiner Schwester, ich konnte es auswendig, in- und auswendig. Ich hatte versucht, das Geräusch der aufschlagenden Schuhe zu übertönen, mit ein paar Takten «Nocturne». Und als ein Auto vorbeifuhr, hatte ich den Mund geöffnet, lalala, sang ich über den Motorenlärm. Als das Auto vorbei war, hörte ich noch ein paar ta ta tagatege, die verschwindenden Schritte der Klavierlehrerin. Doch dann holten mich dieselben Töne aus den Gedanken. Jetzt waren sie voll und schön, sie breiteten sich aus, die Töne, die meine Schwester hinter der verschlossenen Tür spielte. Es war eine Nachtmusik. Ich liebte sie, diese Musik meiner Schwester.
Allerdings war die Nacht eine Tageszeit, die mir nicht zustand. Sie gehörte den Erwachsenen. Manchmal sah ich meine Schwester, die fast erwachsen war, wie sie nach dem Abendessen, hergerichtet wie eine Dame, die Wohnung verliess. Dann würdigte sie mich keines Blickes. Sie war in einen seltsamen Glanz gehüllt, auf ihrem Gesicht lag ein verwunschenes Lächeln und wenn sie die Wohnungstür hinter sich zuzog, blieb ein Geruch zurück von Zimt und Zitrone und geheimnisvollen Kräutern. Ich versuchte ihn für die Zeit ihrer Abwesenheit bei mir zu behalten, diesen schönen Duft. Meistens kam sie spät zurück, dann, wenn Mutter und Vater schon schliefen. Ich aber wachte auf, weil die Dielen von ihren leisen Schritten knarrten. Vorsichtig schlich ich dann zu ihrem Schlafzimmer und beobachtete sie durch die halbgeöffnete Tür. Wie sie sich entkleidete und zu Bett ging mit einem Lächeln im Gesicht, das ich nicht von ihr kannte. Es musste Seltsames geschehen in diesen Nächten, Dinge, die nur den Erwachsenen vorbehalten waren. Doch auch ich wollte die Nacht kennenlernen. Auch ich wollte spielen. Auch ich wollte Chopin spielen und mich wegträumen in die Nacht.
Jetzt war das Klavierspiel verstummt. Die Stimme hinter dem Zimmer wurde lauter. Ich hörte Schritte. Ich wich zurück, ich umfasste meine Notenmappe. Als die Tür aufging, nickte mir die Klavierlehrerin zu. Meine Schwester ging an mir vorbei, die Chopin-Noten unter den einen Arm geklemmt. Mit der anderen Hand kniff sie mich leicht in die Seite. Die Lehrerin geleitete sie zur Haustür. Meine Schwester würde das «Nocturne» zum Abschluss der Vortragsübung spielen. Ich betrat das Zimmer, während die beiden sich im Vorraum noch verabschiedeten. Vielleicht würde ich am Schluss des ersten Teils vor der Pause spielen.
Die Klavierlehrerin trat ins Zimmer und streckte mir die Hand hin. Das schwere Haar fiel ihr ins Gesicht, sie warf den Kopf zurück. Sie schaute ins Aufgabenheft, während ich mich ans Klavier setzte. Die rechte Hand, ta ta-te, ta ta-te. Und jetzt die linke Hand. Ein paar Läufe. Hoch und runter. Die Finger sollten über die Tasten laufen. Der kleine Finger ging hoch. Er schwebte in der Luft, ich zog ihn zurück. Die Klavierlehrerin schüttelte den Kopf. Meine Finger sollten einen Tanz mit schweren Schritten machen. Die rechte Hand mit Nachdruck, die linke Hand elegant. Die Klavierlehrerin beugte sich vor, ihre Augen schauten gross hinter der Brille, die Augenbrauen zogen sich zusammen. Der kleine Finger. Nicht zurückziehen. Im Zimmer war es heiss und stickig. Zwischendurch setzte sie sich an den Flügel, der neben dem Klavier stand und spielte. Dabei lehnte sie den Oberkörper vor und zurück, sie bewegte sich auf und ab, die Finger liefen über die Tastatur, hoch und runter. Sie spielte das «Nocturne» für mich, dachte ich. Sie wollte mir die Nacht zeigen, und ich versuchte, zuzuhören. Doch ich sah, wie ihr das Haar ins Gesicht fiel, wie das Kleid spannte, wie ihr die Brille auf die Nase rutschte. Das «Nocturne» gehörte meiner Schwester. Sie würde es am Schluss der Vortragsübung spielen. Die Lehrerin schob mich auf den Klavierstuhl zurück. Noch einmal, sagte sie. Nach dieser Pause musste es doch klappen. Ich sprach leise zu meinem kleinen Finger. Dann spielte ich den Indianertanz. Später erhob sich die Klavierlehrerin und öffnete das Fenster. Heute keinen Blumenkleber ins Aufgabenheft. Sie reichte mir ihre trockene Hand. Auf Wiedersehen, sagte ich und sie schloss die Haustür. Ich versuchte noch, mit dem Handrücken die Blumenranken an der Tür zu berühren. Ich wusste, dass wir nach der Vortragsübung alle ins Restaurant gehen würden. Vanilleeis mit Schokoladensauce würde es geben.
Simona Ryser
Simona Ryser ist Schriftstellerin, Hörspielregisseurin und Sängerin. Nach einer Lehre als Verlagsbuchhändlerin studierte sie Gesang und hatte verschiedene Engagements an Opernhäusern, unter anderem in Leipzig und Salzburg. Später studierte Ryser Philosophie und Neue Deutsche Literatur in Zürich.