Im Februar 2021 wurden deutsche Zeitungsleser mit zwei Meldungen konfrontiert, die kaum besser die Spannbreite der unterschiedlichen Lebenswelten von Syrerinnen und Syrern ein Jahrzehnt nach Ausbruch der syrischen Revolution aufzeigen: So berichtete die Organisation Welthungerhilfe, dass die syrische Bevölkerung von der schlimmsten Hungerkrise betroffen sei und zwölf Millionen Menschen, die seit Beginn der Aufstände vertrieben wurden, nicht genügend zu essen hätten. Und im weit entfernten Deutschland, wo in den letzten zehn Jahren über 800 000 Menschen aus Syrien eine neue Heimat fanden, erklärte Tareq Alaows dieses Jahr als erster geflüchteter Syrer, für die Grünen zur Bundestagswahl kandidieren zu wollen.
Künstlerisch und politisch engagierte Zugewanderte
Während sich die Situation für einen Grossteil der Bevölkerung in Syrien im letzten Jahrzehnt also dramatisch zugespitzt hat, konnten sich die nach Deutschland geflüchteten Syrer in einem von Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit geprägten Umfeld ein neues Leben aufbauen. Die Anzahl jener, die diese Chance zu nutzen wussten und sich heute künstlerisch, politisch und zivilgesellschaftlich engagieren, ist dabei ungewöhnlich hoch. Noch nie zuvor hat eine Gruppe Zugewanderter in Deutschland in so kurzer Zeit aus dem Nichts eine so produktive kulturelle Szene entstehen lassen und ist so bestrebt, den Diskurs in Deutschland mitzubestimmen wie die Syrer. Die Offenheit der Aufnahmegesellschaft, insbesondere von Kultur- und Medieninstitutionen, leistete dazu einen enormen Beitrag. Etliche Projekte, Workshops, Stipendien und Kooperationen wurden ins Leben gerufen. Auf diese Weise entstand eine umfangreiche syrische Kunst- und Kulturszene.
Brücken zum deutschen Kulturbetrieb schlagen
Besonders grosszügige Unterstützung erhielten syrische Literaturschaffende. Eine wichtige Initiative ist das Projekt WeiterSchreiben.jetzt, das geflüchteten Autoren ermöglicht, eigene Texte auf Deutsch und im Original zu präsentieren. Die Kurzgeschichten, Essays, Romanausschnitte und Gedichte befassen sich nicht nur mit den Erfahrungen und Entwicklungen in den Heimatländern der Autorinnen, sondern behandeln auch die Chancen und Schwierigkeiten, die das Leben im Exil mit sich bringen. Durch Patenschaften zwischen geflüchteten und deutschen Schriftstellern werden darüber hinaus Brücken zum deutschen Kulturbetrieb geschlagen. Nicht zuletzt dank dieser Initiative konnten zahlreiche syrische Zugewanderte bereits in deutschen Verlagen veröffentlichen.
Eine von ihnen ist die Dichterin Lina Atfah. Ihre Gedichte wurden in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Band teilweise in mehr als einer Übersetzung beziehungsweise Nachdichtung veröffentlicht. Ein Experiment, das gleichzeitig die Interpretationsspannen beim Übersetzen ins Rampenlicht rückt. Über den Freiraum, der sich ihr als Lyrikerin in ihrer neuen Heimat bietet, sagte Atfah in einem Interview mit der «Frankfurter Rundschau»: «Ich habe hier in Deutschland so viele Möglichkeiten als Schriftstellerin. Ich hoffe, dass ich weiter schreiben und veröffentlichen kann. Natürlich denke ich an das Leid der Syrer und wünsche mir für die Zukunft, dass die Freiheit doch noch kommt. Das hätten die Menschen so sehr verdient, ein normales Leben in einer normalen Gesellschaft.» Die Diktatur müsse beendet, der Diktator zur Rechenschaft gezogen werden, sagt sie. «Danach könnten wir überlegen und frei entscheiden, wo wir leben wollen: hier bleiben, nach Syrien zurückkehren, vielleicht auch Syrien besuchen als Syrer. Solange Baschar al-Assad an der Macht ist, wird das nicht möglich sein.»
Umfangreicher Schatz an Revolutionskunst
Die bemerkenswerte Kreativität syrischer Künstler und Aktivistinnen ist übrigens keineswegs ein neues, in Deutschland entstandenes Phänomen. Den Einfallsreichtum syrischer Kunstaktivisten, die Willkürherrschaft, Korruption und Brutalität des Regimes anzuprangern, konnte man dank sozialer Netzwerke bereits zu Beginn der syrischen Aufstände beobachten. Einen umfassenden Überblick über diese Aktionen und Kunstwerke bietet die dreisprachige Website Creative Memory of the Syrian Revolution (siehe Bilder links). Damit die syrische Revolutionskunst nicht vergessen geht, wurde 2013 ein Webarchiv gegründet, in dem heute, sortiert nach Regionen und Kunstsparten, 34 200 Dokumente archiviert sind. Hier sind Graffitis, Kalligrafien, Karikaturen und Gemälde, aber auch Filme, Videos und Fotos aus den Jahren 2011 bis 2019 zu finden. Sie belegen die grossen Hoffnungen auf demokratischen Wandel genauso wie die tiefe Verzweiflung, welche die syrischen Kunstschaffenden angesichts des immer brutaleren Vorgehens der Regierung erfasste.
Auch wenn die in Deutschland entstandene syrische Kunst keineswegs nur politisch ist, lässt sich auch hier ein starker Drang zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte erahnen. Und der unbedingte Wille, die durch den «Einsturz der Mauer der Angst» erkämpfte Freiheit des Wortes nicht wieder aufzugeben. Der in Leipzig lebende syrische Publizist Tarek Aziza fasst es in der Zeitschrift «Abwab» folgendermassen zusammen: «Viele Syrer, die aus Assads Hölle entkommen konnten, setzen ihren Kampf im Exil fort, auf dass das millionenfache Opfer der Getöteten, Versehrten und Verschleppten nicht vergebens sei. Als Journalisten, Autoren und Künstler arbeiten sie daran, die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen sowie die Erinnerung an die syrische Revolution, diesen Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit, vor Fälschungsversuchen zu schützen und vor dem Vergessen zu bewahren.»
Zu hoffen ist, dass diese Kulturschaffenden in Zukunft auch einen konstruktiven Beitrag zu einer Versöhnung der zutiefst gespaltenen syrischen Bevölkerung leisten können.
Syrische Kultur im Internet
Literatur: www.weiterschreiben.jetzt
Kunst: www.creativememory.org
Bücher aus dem Exil
Firas Alshater
Versteh einer die Deutschen!
Firas erkundet ein merkwürdiges Land
(Ullstein 2018)
Schon bald nach seiner Ankunft in Deutschland wurde Firas Alshater ein YouTube-Star, der Deutsche und Syrer mit viel Witz einander näherzubringen versucht.
Lina Atfah
Das Buch von der fehlenden Ankunft
(Pendragon 2019)
Die syrische Lyrikerin wurde 2021 mit dem «LiBeraturpreis» ausgezeichnet. Sie schreibt – mal sinnlich, mal humorvoll – vom Krieg und von der Liebe.
Hamed Abboud
In meinem Bart versteckte Geschichten
Aus dem Arabischen von Larissa Bender und Kerstin Wilsch
(Edition Korrespondenzen 2020)
Der Autor lebt in Wien und hat bereits seinen zweiten Textband veröffentlicht. Die Geschichten erzählen von der Flucht sowie vom Ankommen und vergleichen humorvoll das Leben in Syrien mit demjenigen in der neuen Heimat.