Möchten Sie sich einmal als Surrealistin, als Surrealist versuchen? Kühn eine grinsende Sonne auf einer Betonrampe balancieren lassen? «Wie bitte?», rufen Sie. Nun, das geht so: Sie skizzieren auf ein Stück Papier, falten dieses unterhalb ihrer Zeichnung und reichen es weiter. Der oder die Nächste in der Reihe wiederholt den Prozess. Das aufgefaltete Papier gibt dann das fertige Produkt frei: ein abstruser Turm aus Körpern, Landschaften und Architekturen. «Cadavre Exquis» heisst diese Technik – vergnügliche Zufallskunst ist das, aber auch beliebte Arbeitsweise der Surrealisten.
Diese haben es auch Kurator Peter Fischer und Co-Kuratorin Julia Schallberger im Aargauer Kunsthaus angetan. Für «Surrealismus Schweiz» haben sie 400 Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Videos von gut 60 Künstlerinnen und Künstlern zusammengetragen. Längst überfällig war eine solche Ausstellung – der Verbindung zwischen Schweizer Kunst und dieser internationalen Bewegung wurde lange wenig Bedeutung beigemessen. Zu Unrecht, denn die Rolle des Surrealismus in der Schweiz ist vielschichtig. Die Ausstellung in Aarau zeigt deshalb nicht nur Schlüsselwerke wie jene von Alberto Giacometti oder Meret Oppenheim, sondern auch Neuentdeckungen und Zeitgenössisches. «Wir wollten den Surrealismus nicht nur als historische Epoche vermitteln», sagt Kurator Peter Fischer. «Denn er steht für einen Blick auf die Welt, von dem Künstlerinnen und Künstler heute noch profitieren.»
Träume und Ängste zum Vorschein bringen
Also hat das Kuratoren-Team gleich einen ganzen Ausstellungsteil den Methoden der Werkgenese gewidmet. Es ist nämlich vor allem dieser «Blick», der die Surrealisten ausmacht. Inspiriert von Sigmund Freuds Psychoanalyse galt ihr Interesse dem Unbewussten; sie wollten Ängste, Wünsche und Fantasien zum Vorschein bringen. «Ein Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft», forderte André Breton, der Begründer der Bewegung. Also versuchten diese Künstler, ihre Kontrolle über den Schaffensprozess abzugeben, holten den Zufall ins Atelier. Sie bildeten Träume ab, schliesslich lassen sich diese nicht lenken. Sie überliessen die Linienführung auf dem Papier ganz dem Stift. Und sie arbeiteten assoziativ und mit Collagen. Ein einheitlicher surrealer Stil entstand somit nie. Zum Beispiel ist Alberto Giacomettis Skulptur «Fleur en danger» von 1932 eine Art Nonsens-Maschine im Pausen-Modus – eine Schnur spannt einen Bogen, der auf ein hängendes organisches Etwas zu schlagen droht. Max von Moos’ Gemälde «Dämonisches Frühstück» von 1934 erinnert hingegen an Landschaften von Salvador Dalí oder Max Ernst: Albtraumhaft wuchern in diesem Stillleben amorphe Strukturen zu Fingern, sind Architekturen perspektivisch verzerrt, grinsen Harlekinsgesichter. Und Sonja Sekulas «Ohne Titel» von 1943 erinnert an Pablo Picassos Kubismus – geometrische Flächen bilden eine Landschaft.
In der Schweiz waren die Surrealisten Feindbild
Das verbindende Element der Surrealisten war stets ihre Haltung. Und gerade dies führte wohl dazu, dass der Bewegung in der Schweiz über die Jahrzehnte verschiedene Rollen zukamen. Zunächst war sie Feindbild: Ab den 1930ern stand die Kulturpolitik unter dem Diktat der Geistigen Landesverteidigung. Die Künstler sollten angesichts der bedrohlichen Nationalsozialisten in Deutschland den Zusammenhalt stärken, indem sie eine offizielle nationale Identität förderten. «Die Surrealisten beunruhigten da zutiefst», sagt Peter Fischer, «denn sie gaben in ihrem Schaffen die Kontrolle ab, wandten sich ausgerechnet dem Nicht-Faktischen und der Fragmentierung zu.» Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurden sie gerade deswegen zur Inspirationsquelle für Strömungen der Avantgarde. Ihr Gedankengut lebte in der Aktionskunst des Fluxus weiter, oder im Wunsch der Nouveaux Réalistes, das tägliche Leben in die Kunst zu integrieren. Künstler wie Jean Tinguely und Daniel Spoerri orientierten sich am Surrealismus, indem sie spielerisch arbeiteten, Zufall und Zerfall zuliessen.
«Besucher sollen in der Visualität ertrinken»
Ihre Werke werden in Aarau ebenso neben ihren Inspirationsquellen ausgestellt wie zeitgenössisches Schaffen. Not Vitals pfotenähnliche Skulptur «Paw Pow» zum Beispiel. Oder Pipilotti Rists «Deine Raumkapsel». Der Mond ragt in diese Miniatur eines Zimmers hinein und macht es zu einer Art Traummodell. «Wir wollten bewusst eine sinnliche Überwältigung, die Besucher sollen ertrinken in dieser Flut von Visualität», sagt Peter Fischer zum Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart. «Surrealismus ist Überforderung.» Nun, mögen sich Besucher dieser hingeben. Das Surreale ist von Zeit zu Zeit ganz erfrischend.
Surrealismus Schweiz
Sa, 1.9.–Mi, 2.1.
Aargauer Kunsthaus Aarau