Ist man – wie ich – ein Mensch mit Migrationshintergrund, wird man oft mit den immer gleichen Fragen konfrontiert. Ob ich mich der indischen Kultur verbunden fühle, ob ich Hindi spreche, die indische Küche mag. Ob ich mich eher als Schweizer oder als Inder fühle. Legitim, finde ich, oft spricht daraus echtes Interesse, manchmal handelt es sich bloss um Small Talk. Das ist bei thematisch anders gelagerten Gesprächen genauso.
Legitim auch, sich nach der Herkunft zu erkundigen. Ich tue es, alle Menschen mit Migrationshintergrund, die ich kenne, tun es. Sei es im Quartierladen, beim Friseur, im Fitnessstudio, an der Geburtstagsparty. Für uns ist das normal, so wie man das auf Reisen automatisch macht, wenn man jemanden kennenlernt. Ein flüchtiger Verweis auf die eigenen Wurzeln, auf die vermutlich ähnlichen Erfahrungen, das stille Verständnis, dass man sich in diesem Land stets ein kleines bisschen fremd fühlt, selbst wenn man hier geboren wurde. Das verbindet, auch ohne grosse Worte. Keine Ahnung, wer auf die absurde Idee gekommen ist, dies als politische Unkorrektheit einzustufen.
Die Frage, die allerdings irgendwann so zuverlässig kommt wie das Wetter nach der Tagesschau, ist diejenige nach den Erfahrungen mit Rassismus. Und ich stelle dann in vielen Fällen fest, dass man auf mein Kopfschütteln mit leichter Enttäuschung reagiert. Als hätte mein Gegenüber erwartet, dass ich mit einigen haarsträubenden Anekdoten auftrumpfen würde, mit traumatischen Erlebnissen, mit bitteren Vorwürfen. Geschichten, die eine Erwartungshaltung bestätigen.
Tatsächlich ist es so, dass ich während meiner Kindheit und Jugend kaum mit Rassismus konfrontiert war. Später schon, aber das ist eine andere Geschichte. In erster Linie liegt das daran, dass es in den 70er-Jahren kaum Ausländer ins doch etwas abgelegene Berner Oberland verschlagen hat. Ich erinnere mich an ein paar Italiener, Portugiesen, Jugoslawen, da hat noch keiner von Migrationsströmen gesprochen. Inder gab es keine ausser uns, entsprechend waren wir eine geradezu exotische Sensation.
Zwar hat meine Mutter wie viele Migrantinnen und Migranten versucht, die hiesigen Gepflogenheiten zu übernehmen, manchmal sogar so sehr, dass sie mir schweizerischer erschien als die Einheimischen. Sie hat sich geduckt und sich bemüht, nicht anzuecken, nicht unangenehm aufzufallen. Andererseits hat sie jahrelang mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit ihre Saris getragen, was in einem Dorf mit 3000 Einwohnern zu Beginn für ähnliches Aufsehen sorgte, als wäre sie auf einem geschmückten Elefanten über den Marktplatz geritten. In einem Dorf, in dem Frauen über 30 sich ausnahmslos in gedeckten Farben kleideten, waren die knallbunten Wickelkleider ein echter Hingucker. Sie war eine leidenschaftliche Gastgeberin und hat Nachtessen veranstaltet, zu denen sie auch Leute eingeladen hat, die sie im besten Fall flüchtig kannte. Sie hat indisch gekocht, Unmengen, bis es in der ganzen Umgebung nach geröstetem Kreuzkümmel und Koriander gerochen hat. Überall standen Statuetten hinduistischer Gottheiten, dazwischen aber auch ein gekreuzigter Jesus, Maria mit Kind, das Resultat einer nur halbwegs gelungenen Missionierung. Wenn sie gebetet hat, hatte sie stets die Qual der Wahl.
Meine Einstellung dazu hat sich im Verlauf der Jahre immer wieder verändert. Als Kind habe ich mir wenig Gedanken gemacht, ich kannte nichts anderes. Und meine Mutter war ohnehin die coolste Frau, bis sie irgendwann mit Kim Wilde und Nena um die Spitzenposition kämpfen musste. Als Teenager wurde mir ihre Haltung allerdings zunehmend peinlich. Alles, was ich wollte, war, mich nahtlos ins System einzufügen, ganz dazuzugehören, bloss nicht aufzufallen. Pubertät halt, ich wollte genau so sein wie alle anderen. Ich wünschte mir, die Sommerferien in Spanien zu verbringen wie meine Schulkameraden. Doch wie bei Migrantinnen und Migranten üblich, war «Urlaub»für meine Mutter gleichgesetzt mit «nach Hause fliegen». Verwandtenbesuche, die man beladen mit Schweizer Schokolade, Sackmessern und touristischem Krimskrams absolvierte.
Schon früh hatte ich versucht, mich der indischen Sprache zu verweigern. Hindi entsteht irgendwo weit hinten im Rachen, ein Idiom voller gutturaler, halb verschluckter Laute, die es vermögen, einen Vierjährigen lebenslang zu traumatisieren, wenn sie ihm in gellender Lautstärke durch die lokale Coop-Filiale nachgeschrien werden. Und meine Mutter hatte eine kräftige Stimme. Weswegen ich stets auf Berndeutsch geantwortet habe. Etwas, das sie nicht gelten liess, sie fand es wichtig, dass ich die Sprache meiner Ahnen beherrschte. Im Teenageralter konnte ich mich ihr jedoch weit gewandter widersetzen, mit der Folge, dass ich heute Hindi fast perfekt verstehe, mich aber erst nach zwei Bier getraue, selber etwas zu sagen. Auch diese indische Insel, die sie in der Wohnung geschaffen hatte, ärgerte mich. Draussen war Schweiz pur, wenn ich nach Hause kam, war es, als würde ich durch ein magisches Tor treten und direkt in Delhi landen.
Jetzt, als Erwachsener, sehe ich die Dinge nochmals anders. Und bin stolz auf meine Mutter, die sich ihre Traditionen bewahrt hat. Die unbeirrt die Kleider trug, in denen sie sich wohlfühlte. Die versucht hat, in der Schweiz heimisch zu werden, ohne ihre Herkunft zu verleugnen.
Zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen, ist nicht ganz einfach. Es bringt allerdings auch etliche Vorteile mit sich. Und wenn mich heute jemand fragt, ob ich mich eher als Schweizer oder als Inder fühle, antworte ich jeweils: «Mal so, mal so.»
Sunil Mann
Sunil Mann (*1972) wurde im Berner Oberland als Sohn indischer Einwanderer geboren. In Zürich hat er ein Studium der Psychologie und Germanistik angefangen, bevor er die Hotelfachschule Belvoirpark absolvierte. 20 Jahre lang arbeitete er als Flugbegleiter bei der Swiss. Als Autor erlangte er mit seinen Krimis rund um den indischstämmigen Privatdetektiv Vijay Kumar Bekanntheit. Für seine Kurzgeschichten, Krimis und Kinderbücher wurde er vielfach ausgezeichnet. Kürzlich ist «Der Kalmar» erschienen, der dritte Fall für das Zürcher Privatermittler-Duo Marisa Greco und Bashir Berisha. Sunil Mann lebt in Zürich.