Anders, so wollten sie immer sein. Nicht wie ihre Freunde mit den Häuschen auf dem Land, den Kindern, dem Gemüsegarten, der Hypothek und dieser Haltung, die je nach Stimmungslage Richtung Rechtfertigung, aufgesetzte Selbstironie oder Überheblichkeit ausschlägt.
«Weil die Stadt, irgendwann wird das doch zu viel», hört Renate Manons Stimme, als sässe sie direkt neben ihr. Sie schliesst kurz die Augen und sieht Manon, die auf dem Boden einer versifften WC-Kabine kniet, bläuliches Licht, der Rock ist hochgerutscht. Ein Klub im Industriequartier, der Name fällt ihr nicht mehr ein. Manon mit tränenverschmierter Schminke und einem gerollten Hunderter im linken Nasenloch. Wie sie sich über die schnurgerade Linie auf dem Toilettendeckel beugt. Und heute: selbst angebaute Auberginen, selbst eingemacht, mit frischem Lorbeer in selbst kreiertem Chili-Knoblauch-Öl.
«Man kann ja nicht ewig … und jetzt mit dem Kind sowieso.» Manons Mund, der Halbsätze absondert. Halbsätze, die das Wesentliche umkreisen, es aber nie berühren, vermutlich aus Furcht vor den eigenen Plattitüden. Manons Annahme, dass es jedem exakt so ergeht wir ihr, lässt Renate aufbegehren. Sie beide sind nicht in die Falle getappt, Oliver und sie, sie sind nicht so, angepasst und duckmäuserisch, gefangen in gutbürgerlichen Konventionen.
«Versprich mir, dass wir nicht in dieser Sackgasse landen», hat Oliver geflüstert und ist ihr durchs Haar gefahren. «Kein Stillstand, wir wollen in Bewegung bleiben, mit der Zeit gehen und uns immer wieder neu entdecken.»
Renate hat es ihm versprochen, und genau deswegen sitzt sie jetzt hier, an dieser Theke, die Hand am Weinglas. Ein Lokal, in dem niemand Weisswein trinkt, doch darum geht es nicht. Die Musik ist laut und schlecht, Renate wiegt trotzdem den Kopf im Takt und lächelt, wenn sie aufblickt. Sie hat sich schön gemacht. Das Kleid mit dem tiefen Ausschnitt, ein paar Jahre weggeschminkt, die Haare hochgesteckt.
«Hey, alles klar?» Der Typ stützt sich auf der Bar ab, die Arme muskulös, das Gesicht gerötet, er schwitzt.
Renate spürt, wie etwas in ihr zurückzuckt, als hätte der Kerl eine offene Wunde berührt, ihr rohes Fleisch. Sie verkrampft innerlich und weiss plötzlich mit verblüffender Klarheit, was zuvor nur eine dräuende Ahnung gewesen ist: dass sie das nicht will. Keine Carte blanche.
«Was macht eine so hübsche Frau allein um diese Zeit in einer Bar wie dieser?»
Einen so langen Satz hätte ihm Renate nicht mehr zugetraut, einen derart gewöhnlichen hingegen schon. Sie kann seinen Bieratem riechen, die Verzweiflung eines späten Samstagabends in einem Lokal, das die meisten Frauen nur mit Begleitung betreten.
Der Kerl bestellt einen Weisswein für sie, und stellt sich neben sie, setzt die Bierflasche an, und schon spürt sie seinen Oberschenkel, der sich an ihren presst, der Mann verliert keine Zeit.
«Mein Range Rover steht draussen», flüstert er ihr ins Ohr, und Renates Blick zoomt auf seinen Ringfinger. Eine Zäsur, hell eingestanzt in behaarte Haut. Sie zögert, steht auf und lächelt ihm dabei auffordernd zu.
Vor der Tür Neonlicht, der kalte Schein enthüllt ein Jungengesicht, das er versucht, unter mickrigem Bartwuchs zu verbergen. Er packt Renate, und sie spürt seinen Atem an ihrem Hals, heiss, stossweise, seine Zunge auf ihrer Haut, sie ekelt sich. So nicht. Entschlossen windet sie sich aus der Umklammerung, stösst ihn vor die Brust, als er sie nicht loslässt. Sein Griff mit einem Mal ein Schraubstock, ihr Knie schnellt hoch, und er krümmt sich fluchend.
«Du verdammte Schlampe!», brüllt er ihr hinterher.
Sie rennt über den Parkplatz, entriegelt ihren Wagen, wirft sich hinein. Keuchend begutachtet sie sich im Spiegel. Das Haar aufgelöst, die Wangen gerötet, ihre Haut feucht. Und vor allem riecht sie nach Bier und Schweiss, nach ihm.
Perfekt, denkt Renate und zupft an ihrem Kleid herum, bis es endgültig verrutscht aussieht, dann startet sie den Motor.
Als sie kurze Zeit später die Wohnung betritt, sitzt Oliver vor dem Fernseher. Er mustert sie genau, registriert ihr aufgelöstes Haar, wie unordentlich sie gekleidet ist. Wendet sich dann mit beinahe perfekt gespielter Gleichgültigkeit wieder dem Fernseher zu, und Renate lässt sich mit einem erschöpften Seufzer neben ihm auf das Sofa fallen. Eine seltsame Distanz zwischen ihnen, eine ungewohnte Kälte, doch das war ihre Abmachung. Nicht wie die anderen, bloss nicht, keine Sackgassen und auch keine Fesseln, offen die Beziehung, damit sich keiner eingesperrt fühlt.
«Am Samstag», hat Oliver gesagt. «Carte blanche.»
Verstohlen sieht sie sich um. Der Hauch eines unbekannten Parfüms in der Luft. Eine hastig abgestreifte Socke, die halb unter den Salontisch gerutscht ist, die zerwühlten Kissen auf dem Sofa. Zigarettenstummel im Aschenbecher, die Hälfte davon eine fremde Marke, zwei benutzte Gläser auf der Anrichte.
Wäre sie unvoreingenommen gewesen, wäre es Renate womöglich aufgefallen: wie Oliver alles mit der ihm eigenen Perfektion arrangiert hat. Als wäre die Wohnung eine Theaterbühne, und Renate die einzige Zuschauerin. Alles einen Tick zu zufällig, um echt zu sein. Doch Renate sieht es nicht, denn sie ist zu sehr damit beschäftigt, genau diese Details geflissentlich zu übersehen. Und so, wie er nichts vom Verlauf ihres Abends ahnt, erkennt sie seine Inszenierung nicht.
Sie rückt näher an ihn heran, und er legt den Arm um sie. Nicht wie die anderen, denkt sie, bloss nicht. Darin sind sie sich einig, darauf sind sie stolz. Und dieser Gedanke wiegt alles andere auf.
Sunil Mann
Der 45-jährige Sunil Mann wurde im Berner Oberland als Sohn indischer Einwanderer geboren. Er besuchte in Interlaken das Gymnasium. In Zürich studierte er Psychologie und Germanistik, brach sein Studium ab und absolvierte die Hotelfachschule Belvoirpark. Heute lebt er in Zürich, arbeitet als Flugbegleiter bei Swiss und schreibt Krimis rund um den indischstämmigen Privatdetektiv Vijay Kumar. Kürzlich erschien im Grafit Verlag der sechste Band «Schattenschnitt» und im Orell Füssli Verlag der Kinderroman «Immer dieser Gabriel».