Ein Raubüberfall auf einen Geldtransporter am helllichten Tag mitten in Montevideo ist gewaltig schiefgegangen. Mittendrin steht die forsche Ursula, eine leicht übergewichtige Frau mittleren Alters. Dank ihrer Cleverness und mit Hilfe eines zwielichtigen Kumpans hat sie sich die gesamte Beute unter den Nagel gerissen. Doch nun wird sie von den eigentlichen Verbrechern verfolgt: Ein Anwalt mit Beziehungen in die höchsten Polit-Kreise, der zugleich wichtigster Drogenhändler der Stadt ist, der Polizeichef sowie ein dilettantischer Räuber sehnen sich nach Vergeltung. Damit nicht genug. Eine erfolglose Kommissarin, eine Privatdetektivin und ihre eigene Schwester heften sich ebenso an Ursulas Fersen.
Diese explosive Ausgangslage präsentiert die preisgekrönte Schriftstellerin Mercedes Rosende in ihrem Werk «Der Ursula-Effekt», dem kürzlich auf Deutsch erschienenen, dritten Teil der Montevideo-Romane. Der Krimi bietet alles, was eine Novela Negra auszeichnet: Aktualität und Zeitgeschichte, verpackt in eine spannende Handlung. Mit viel Geschick geht die in der Kindheit schwer misshandelte Ursula dem Verbrechen auf die Spur und sieht darin die Chance, ihrem trostlosen Leben zu entkommen. Dabei deckt sie die Abgründe der uruguayischen Gesellschaft auf, zwischen denen sie sich täglich bewegt – ein bestechliches Justizsystem, familiäre Gewalt, Sexismus.
«Für Inspiration schlage ich die Zeitung auf»
Das literarische Genre der Novela Negra spiegelt in seinem ganz eigenen Stil die Realität der Menschen in Lateinamerika wider. Die Spannungsliteratur gibt den Autorinnen und Autoren die Möglichkeit, die dunklen Seiten der Gesellschaft ihrer Heimatländer aufzudecken. «Für Inspiration muss ich nur die Zeitungen aufschlagen», sagt Mercedes Rosende im Telefoninterview mit dem kulturtipp.
Ihren Ursprung hat die Novela Negra in den Kriminalromanen, die ab dem 19. Jahrhundert in Europa, vor allem in Frankreich und England, entstanden. Als ab Mitte der 1970er-Jahre fast alle lateinamerikanischen Staaten unter Diktaturen standen, mussten die Autoren den Kriminalroman quasi neu erfinden. Denn wie schreibt man einen Krimi in einem Land, in dem die schlimmen Verbrechen vom Staat selbst begangen werden? Wie soll man mit der Polizei umgehen, wenn diese selbst für das Böse steht?
Korruption und veraltete Frauenbilder
So erhält auch die im Sumpf der Ermittlungen stecken gebliebene Kommissarin Leonilda Lima den Eindruck, dass in dieser verworrenen Geschichte um Ursula und den Überfall die vermeintlich Schuldigen und Unschuldigen nicht die sind, die es anfänglich zu sein scheinen.
Die Kriminalromane, die von Mexiko bis Argentinien entstehen, unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von den europäischen Krimis: Die ermittelnde Person hat nichts mit der Polizei zu tun. «Das Korruptionsgeschwür hat sich so tief in unseren Gesellschaften eingenistet, man kann den öffentlichen Institutionen nicht trauen», sagt Autorin Rosende. Deshalb decken in diesen Romanen unabhängige Protagonisten, die meist Aussenseiter sind, die Verbrechen auf, erklärt die 63-Jährige.
Nebst der in Uruguay aufkeimenden Kriminalität und den korrumpierbaren staatlichen Institutionen verhandelt Mercedes Rosende in ihrem Roman auch den sozialen Druck, welchem die Frauen ausgesetzt sind. «Frauen müssen nach dem Verständnis der Gesellschaft immer schön, jung und erfolgreich sein. Das ist rein biologisch gesehen unmöglich und absurd», sagt sie. Mit Ursula, einer einsamen, stets mit grossem Appetit und viel Cleverness gesegneten Person, zeichnet die Schriftstellerin ein veraltetes Frauenbild neu. Die in Montevideo aufgewachsene Rosende bezeichnet ihr Buch dennoch nicht als feministisches Werk. Aber es sei ihr wichtig, die Unterdrückung, der Frauen in Lateinamerika täglich ausgesetzt sind, zu thematisieren. So wünscht man Ursula, wie auch den Protagonistinnen weiterer Novela-Negra-Krimis, nichts mehr, als dass durch ihr mutiges Einschreiten der Gerechtigkeit wenigsten ein wenig Genüge getan wird.
Mercedes Rosende
Der Ursula-Effekt
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
279 Seiten
(Unionsverlag 2021)
Krimitipps aus Südamerika
Argentinien
Sabaté ist Assistent eines argentinischen Parteichefs. Allmählich wundert er sich über die intrigante Kampagne, die seinen Chef an die Macht bringen soll. Mit Hilfe einer jungen Journalistin versucht er, sich aus dem Netz der Lügen zu befreien, und löst dadurch ein politisches Erdbeben aus.
Claudia Piñeiro
Der Privatsekretär
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
320 Seiten
(Unionsverlag 2018)
Kuba
Auf einer Finca bei Havanna wird nach 40 Jahren die Leiche eines FBI-Agenten gefunden. Die Maschinenpistole, mit welcher der Mann getötet wurde, stammt aus der Waffensammlung von Ernest Hemingway. Die kubanische Polizei tut alles, um den Fall geheim zu halten. Doch dann beginnt der Ex-Polizist Mario Conde zu ermitteln.
Leonardo Padura
Adiós Hemingway
Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein
192 Seiten
(Unionsverlag 2006)
Kolumbien
Ein kolumbianischer Drogenboss muss sich zwischen seinen zwielichtigen Geschäften und seiner geliebten Frau, die ein Kind von ihm erwartet, entscheiden. Denn sie hat bereits die Flucht aus Kolumbien geplant, um dem Teufelskreis der Gewalt zu entkommen.
Laura Restrepo
Der Leopard in der Sonne
Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller
368 Seiten
(Fischer 2018)
Mexiko
Die junge Olga ist Reporterin für eine Tageszeitung in Mexiko-Stadt. Auf einen Schlag ist sie mit fünf Leichen konfrontiert. Weil die Polizei keine Anstalten macht, gründlich zu ermitteln, macht sich Olga selbst auf die Suche nach den Mördern.
Paco Ignacio Taibo II
Olga Forever
Aus dem Spanischen von Horst Rosenberger
192 Seiten
(Edition Nautilus 1998)