Miles Davis (1926–1991) hatte den Jazz bereits mehrmals neu erfunden, als er 1969 zu seiner wohl innovativsten Schaffensphase ansetzte. Mit den wegweisenden LPs «In A Silent Way» und «Bitches Brew» legte der grosse Trompeter, Komponist und Bandleader das musikalische Fundament für so unterschiedliche Genres wie Jazzrock, Ambient und Drum ’n’ Bass.
Beim Wechsel zu elektronischen Klängen und harten Grooves standen neben künstlerischen Ambitionen auch geschäftliche Interessen im Vordergrund. Während Davis sich Nacht für Nacht für kleine Gagen in winzigen Jazzclubs abmühte, lockten junge Rock- und Funk-Bands Tausende Menschen in die Stadien. Indem Davis sich von den Platten von Jimi Hendrix, Carlos Santana und Sly Stone inspirieren liess, versuchte er den musikalischen Anschluss an die Woodstock-Generation.
Bunt angerichtetes Künstlerporträt
Rund fünf Jahrzehnte später ist der Dokumentarfilm «Birth Of The Cool» erschienen. Stanley Nelson kennt sich in der Materie bestens aus, das macht der preisgekrönte US-Regisseur in diesem bunt angerichteten Künstlerporträt immer wieder klar. Obwohl Nelson zahlreiche Musiker, Veranstalter und Kritiker interviewte, vermittelt der Film aber kaum neue Einblicke in Davis’ Wirken. Das liegt an der Form, die Nelson für «Birth Of The Cool» gewählt hat.
Statt einen analysierenden Off-Kommentar in die Filmtonspur einzuspeisen, lässt Nelson den afroamerikanischen Schauspieler Carl Lumbly aus Davis’ Memoiren zitieren. Schön aber, dass Davis’ erste Ehefrau und wichtigste Muse Frances Taylor auch zu Wort kommt. Sie wirft ein hartes Licht auf den als schwierig und zerrissen bekannten Musiker. Der pathologisch eifersüchtige Davis griff seine Frau wiederholt an.
Dafür bleibt Davis’ langjähriger Produzent Teo Macero unerwähnt. Mit komplexen Soundmontagen verlieh Macero den Alben «Live Evil», «On The Corner» und «Big Fun» ein avantgardistisches Flair. Diese Nachbearbeitungen gerieten oft so radikal, dass die in die ursprünglichen Sessions involvierten Musiker die fertigen Aufnahmen nicht wiedererkannten. Unter Jazzfans sind Maceros Soundexperimente bis heute umstritten. Auch Nelson scheint sich weniger dafür zu begeistern als für Davis’ Zusammenarbeit mit dem kanadischen Arrangeur Gil Evans. Sonst hätte er den Film kaum nach der LP «Birth Of The Cool» aus dem Jahr 1957 benannt.
Temporeich und kurzweilig
Im Film spult Nelson die Zeit nach Davis’ grossem Comeback 1981 ab. Bis zu seinem Tod 1991 erhob Davis die Pop-Hits von Michael Jackson und Cyndi Lauper zu Jazzstandards und veröffentlichte mit «Tutu» 1986 auch ein viel beachtetes Spätwerk. Auf der Bühne wirkte er aber oft müde und überfordert.
Der Regisseur präsentiert bereits bekannte Fakten mit Verve, und so gerät «Birth Of The Cool» temporeich und kurzweilig. Weil der Film wie eine cineastisch aufbereitete Biografie daherkommt, wirkt er aber auch etwas konventionell. Weniger Detailliebe und mehr Tiefenschärfe hätten dieser liebevoll gemachten Hommage gutgetan. Davis, der Stilist und Sprengmeister in einer Person, hätte einen mutigeren Film verdient.
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DVD
Miles Davis – Birth Of The Cool
Regie: Stanley Nelson
USA 2019
(Universal Music 2020)