Stich ins Herz
Claude Lachat über einen ungeklärten Fall
Als ihn der Wagen erfasste, verspürte er einen heftigen Schlag. Dann wurde es dunkel um ihn. Nichts war zu hören. Selbst die Schreie der Passanten erschienen dumpf und weit weg. Auf dem nassen Asphalt liegend, verfluchte er seinen Nebenbuhler und rief lautlos nach dem Namen seiner Geliebten. Ein unbändiger Schmerz durchpflügte seine Gedanken.
«Sie befinden sich in der Notaufnahme. Können Sie uns Ihren Namen nennen?»
Nichts, aber auch...
Als ihn der Wagen erfasste, verspürte er einen heftigen Schlag. Dann wurde es dunkel um ihn. Nichts war zu hören. Selbst die Schreie der Passanten erschienen dumpf und weit weg. Auf dem nassen Asphalt liegend, verfluchte er seinen Nebenbuhler und rief lautlos nach dem Namen seiner Geliebten. Ein unbändiger Schmerz durchpflügte seine Gedanken.
«Sie befinden sich in der Notaufnahme. Können Sie uns Ihren Namen nennen?»
Nichts, aber auch gar nichts wollte so funktionieren, wie er es sich wünschte. Seine Lippen bewegten sich lautlos.
«Sie dürfen ihn nicht überanstrengen. Er steht unter Schock.»
«Polizeiliche Ermittlungen gehen vor! Wir benötigen seine Aussage, damit wir unseren Job erledigen können.»
«Haben Sie den Fahrer erkannt? Den Wagen?»
Natürlich kannte er den Fahrer. Wie könnte er dieses Gesicht je vergessen. Er war es, welcher ihm seine Geliebte wegnahm. Er war es, welcher ihm mit dem Tod gedroht hatte, sollte er sich noch einmal in ihrer Nähe blicken lassen.
Er wusste, dieser Mann war zu allem fähig. Und er, er war unfähig, diesen Mann einer Straftat zu bezichtigen. Eines versuchten Mordes. Hilflos formte er seine Lippen, die jedoch nichts anderes als eine groteske Mimik zustande brachten.
Sie hatte ihm geschworen, sich nicht mehr mit ihm zu treffen. Sie hatte ihm ewige Liebe versprochen. Als er sie in flagranti ertappte, brannten bei ihm die Sicherungen durch. Wie ein exaltierter Choleriker tobte er und wäre ihm beinahe an die Kehle gesprungen. Nur dem unerschrockenen Eingreifen seiner Geliebten war es zu verdanken, dass die Situation nicht ausser Kontrolle geriet.
Seine Ex-Frau hatte es ihm immer wieder prophezeit: «Du wirst nie eine Beziehung führen können. Nicht mit deiner rasenden Eifersucht! Ich bin die Einzige, die dich so liebt, wie du bist. Ich werde dich nie verlassen!»
Ihre Worte hallten noch immer in seinen Ohren. Sie wollte ihn nicht aufgeben. Sie kämpfte mit aller Macht gegen seine Geliebte. Nichts würde sie im Kampf um ihn aufhalten.
«War es der Geliebte Ihrer Freundin? Hatten Sie Streit? Konnten Sie den Wagen erkennen? Wer sass hinter dem Steuer?»
Stoisch wiederholte der Beamte seine Fragen.
«Jetzt ist genug! Ich muss Sie bitten zu gehen. Sie sehen doch, dass er nicht fähig ist zu sprechen.»
Er fühlte sich matt. Erledigt. Er hatte nur noch einen Wunsch: Schlafen. Seine Geliebte trocknete ihre Tränen und schluchzte hemmungslos.
«Hätte ich ihn doch nie betrogen. Hätte ich ihn nicht in meine Wohnung gelassen.»
«Sie haben ihn reingelassen? Wo waren Sie zum Zeitpunkt des Unfalls?»
«Zu Hause. Ich war zu Hause», erwiderte sie stockend.
«Ihr Freund? Wo befand er sich nach dieser Auseinandersetzung?»
«Ich weiss es nicht! Weg. Er war es nicht! Er würde so etwas nie tun!»
Tränen rannen ihr über das Gesicht.
«Nicht, nachdem er Ihrem Freund das Nasenbein gebrochen hat? Sie sind sich da ganz sicher?»
Sein Ton konnte den Sarkasmus nicht verhehlen, den er professionell zu unterdrücken versuchte.
Seine Brust schmerzte. Der Unterhaltung zwischen dem Beamten und seiner Freundin konnte er nur teilweise folgen. Zu sehr mühte er sich ab zu atmen. Zu leben. Er war unfähig zu reagieren. Immer wieder verliessen ihn seine Kräfte, und er versank in einem leichten Dämmerschlaf. Angst. Er verspürte Angst, nicht mehr aufzuwachen. Er wollte schreien.
«Es war ein grüner Wagen. Ihr Bekannter fährt einen grünen Wagen. Wir haben ihn zur Fahndung ausgeschrieben.»
«Fragen Sie doch seine Frau. Die hätte allen Grund, ihn zu überfahren.»
«Zu ermorden. Das Ganze macht mir den Anschein, wie wenn die Tat geplant worden wäre. Und Ihr Bekannter ist dringend verdächtigt, das Tatfahrzeug gefahren zu haben.»
Immer wieder brach sie in lautes Schluchzen aus. Den Beamten kümmerte es nicht. Wie oft hatte er Szenen wie diese schon erlebt. Für ihn war der Fall klar. Dieser Bekannte oder seine Frau kamen als Einzige infrage. Nur sie hatten ein Motiv, ihn aus dem Weg zu räumen. Kranke Eifersucht. Auf beiden Seiten. Sie wimmerte jetzt nur noch. Er hätte sie gerne in die Arme genommen, aber sein Gehirn gehorchte ihm nicht. Immer fester zog sich der Schmerz um sein Herz. Immer mehr schnürte es ihm die Luft ab. Er röchelte unmerklich. Die beiden schienen nichts zu bemerken. Das Funkgerät krächzte, und der Beamte lauschte gespannt. Sein Gesicht zeigte keine Anzeichen von Regungen. Sie starrte ihn mit leeren Augen an und betete, dass er es nicht war. Nie würde sie es sich verzeihen, ihn betrogen zu haben.
«Wir haben ihn. Sein Wagen wurde auf der Schnellstrasse gestellt. Bald wissen wir mehr. Die kriminaltechnische Untersuchung läuft auf Hochtouren.»
Es war zu viel für sie. Unter Tränen sank sie in sich zusammen. Der Beamte registrierte dies emotionslos. Er hatte einen versuchten Mord aufzuklären.
«Was ist mit seiner Frau?», sprach er mit ruhiger Stimme ins Funkgerät und presste es an sein Ohr.
«Okay. Das ändert natürlich wieder alles.»
Sie erstarrte und blickte ihn mit fragendem Blick an.
«Was ändert? Was ist mit seiner Frau?»
Der Beamte schaute auf sie hinunter und runzelte die Stirn.
«Seine Frau war ebenfalls im Wagen Ihres Bekannten. Einer der Verdächtigen ist gefahren. Zur Tatzeit.»
Er hasste es, wenn sich sein kriminalistischer Spürsinn in Luft auflöste. Sie würden sich gegenseitig decken. Lügen.
Wie durch einen dunklen Schleier beobachtete er den Beamten und seine Freundin. Sie hatte ihn verraten. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr.
Als der diensthabende Notfallarzt das Leintuch über ihn zog, brach sie zusammen. Der Beamte schwieg betreten und klappte sein schwarzes Notizbuch zu. Zu spät. Er würde nie erfahren, wer hinter dem Steuer sass. Als die Ärzte sie vom Bett ziehen wollten, klammerte sie sich mit aller Macht an seinem Arm fest.
«Nein! Du darfst nicht gehen!»
Er spürte sie längst nicht mehr.
Einer der Ärzte zog den Beamten zur Seite.
«Er erlitt vor dem Zeitpunkt des Aufpralls eine irreversible Nekrose.»
Der Beamte blickte ihn verständnislos an.
«Herzinfarkt. Gebrochenes Herz. Oder wie wir Mediziner es nennen: Er erhielt einen Stich ins Herz.»
Claude Lachat
1963 in Basel geboren und aufgewachsen, lebt Claude Lachat heute mit seiner Frau und drei Kindern in Lauwil BL. Er arbeitet als Verkaufs- und Marketingspezialist. Im Februar ist sein erster Basel-Krimi «Muttertag zum Ersten» erschienen. Die beiden Folgebände sowie ein Kinderbuch sind in Arbeit.