Sol León und Paul Lightfoot gehören zu den Grossen in der Welt des Tanzes. Kurz vor einer Probe im Opernhaus Zürich nehmen sie sich Zeit für ein Interview. Künstlerallüren aber haben sie nicht. Aufmerksam und geduldig beantworten sie die Fragen, auch wenn sie ihnen in ihrer langen Karriere wiederholt gestellt wurden.
Lightfoot ist Engländer mit offenem, herzlichem Lachen. Er scheint der Kommunikative in diesem Tandem zu sein. Seine Antworten kommen schnell und klar, dazu gestikuliert er und schüttelt seine beeindruckende Haarpracht. Anders die Spanierin León, die eher streng wirkt. Etwas Kraftvolles geht von ihr aus. Dabei denkt man unweigerlich an die Sonne – Sol wie ihr Vorname. Beide haben sich als Tänzer 1989 im Nederlands Dans Theater, kurz: dem NDT, in Den Haag näher kennengelernt, sind heute aber kein Paar mehr. Doch ihre tiefe Verbundenheit dauert an.
Ihr kreativer Brennpunkt und künstlerischer Hafen ist das NDT mit seinen beiden hochkarätigen Ensembles geblieben, dem grossen NDT 1 und der zweiten Compagnie NDT 2. Im Gespräch redet León einmal «vom Boot», in dem sie sich sicher vorwärtsbewegten. Das Theater in Den Haag verfügt über eine Infrastruktur, die keine Wünsche offenlässt. Heute ist Lightfoot deren künstlerischer Leiter in den Fussspuren des Mitbegründers Hans van Manen sowie des Tschechen Jirí Kylián und vielen anderen.
Das bedeutet Last und Lust zugleich. Schon bevor León und Lightfoot 2002 offiziell zu Haus-Choreografen ernannt wurden, haben sie zusammen Stücke für die Compagnie entwickelt. 1994 hat das Stück «Sh-Boom!» in einem Workshop seine erste Form erhalten und wird jetzt, während des Tanzfestivals Steps, zusammen mit drei anderen Kurzstücken durch die Schweiz touren. Sie seien damals naiv gewesen, meint León im Rückblick. Dennoch ist ein kleines Meisterwerk entstanden, das das NDT schon auf der ganzen Welt gezeigt hat und auch von fremden Tanztruppen einstudiert wurde.
Heitere Nachkriegslieder aus aller Welt
Der Titel «Sh-Boom!» stammt von einem Schlager, den Lightfoot auf einer alten Schallplatte seiner Mutter gefunden hat. «Alle unsere Songs sind zwischen den 20er- und 50er-Jahren entstanden. Es sind Nachkriegslieder, die gute Laune verbreiten», erklärt der Choreograf. «Das klingt beinahe zu leicht und gibt dir das vage Gefühl, dass dahinter anderes, weniger Heiteres, stecken könnte.» Einen verdeckten politischen Inhalt habe die Inszenierung nicht, erklären die beiden. Sie würden es nicht als humorvoll, wohl aber als ironisch umschreiben. «Weitere Ingredienzen zum Stück kamen damals von unserer international zusammengesetzten Truppe, von einzelnen Tänzerpersönlichkeiten», ergänzt León. Da war ein Finne, der davon erzählte, wie populär der Tango in seinem Land sei. Und so kam ein auf Finnisch gesungener Song dazu. Und so weiter.
Inspiration war auch der spanische Künstler Francisco de Goya mit seinen Zeichnungen in Schwarz-Weiss, in denen er die Misere der Welt anprangerte. Für Lightfoot sind das die ersten satirischen Cartoons überhaupt. In «Sh-Boom!» stehen die Männer im Rampenlicht in ihren strahlend weissen Hemden und Krawatten, während die vier Frauen in schwarzen Kleidern im Hintergrund das Geschehen am Laufen halten. Allmählich fallen die Hüllen, und die Männer tanzen in ihrer Unterwäsche. Kein Wunder, haben viele Kritiker in den lose miteinander verbundenen Tanzszenen mehr als einen ironischen Kommentar sehen wollen.
Tänzer als Individuum betrachten
Nicht nur die Choreografie, auch die Kostüme und das Bühnenbild stammen von den beiden Künstlern. Das ist bei ihren Arbeiten meistens der Fall. «Wir sind Kontrollfreaks», meint Lightfoot, während León etwas einschränkt: «Wir werden älter, wir müssen loslassen lernen.» Wenn immer möglich, studieren die beiden ihre Stücke selber, ganz oder teilweise, mit einer fremden Compagnie ein. Nur so, sind sie überzeugt, könne die innere Substanz vermittelt werden. Vor allem aber spielt da ihre Überzeugung mit, dass ein Tänzer mehr als ein Interpret sei: «Eine Tänzerin ist ein Individuum, eine Künstlerin», sagt León dezidiert.
Ungewöhnlich ist, dass die beiden seit bald 30 Jahren gemeinsam als Choreografen auftreten. «Das ist sehr schwierig», kommentiert León ernst, «aber als Künstlerin lebst du mal nicht in einer Komfortzone.» Und Lightfoot witzelt: «Das ist sehr leicht …» Während sie von sich sagt, dass sie klare Vorstellungen hätte und nicht gerne davon abrücke, lässt er sich gerne von anderen Vorstellungen anregen. «Das Prinzip der Dualität ist sozusagen eine Philosophie», erläutert León. «Die andere Seite inspiriert mich, und dieses Gegenüber ist nun mal Paul.»
Tanz als kinetische Disziplin
Die beiden Künstler bezeichnen ihre gemeinsame Arbeit als Alchemie. Nicht alles lässt sich erklären. «Das Leben ist komplex; der Tanz ist eine kinetische Kunstform, mit anderen und anderem verbunden», so Lightfoot. Picasso hat seine Malerei einmal als eine Form von Tagebuch bezeichnet. Ein Satz, der auch auf die beiden zutrifft. «Die Werke folgen uns dahin, wo wir gerade sind», sagen beide. Leben und Kunst durchdringen sich bei ihnen in hohem Mass und halten ihre Kreativität am Sprudeln.
30 Jahre Steps
Das biennale Tanzfestival Steps von Migros Kulturprozent feiert dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Es tourt vom 12. April bis 5. Mai durch die ganze Schweiz. Das Nederlands Dans Theater 2 feiert mit «Sh-Boom!» von León & Lightfoot und drei anderen Stücken seinen Auftritt. Ein weiterer Höhepunkt ist das Gastspiel von Göteborgs Operans Danskompani/Eastman mit zwei Choreografien von Sidi Larbi Cherkaoui, die das Festival eröffnen. Neben internationalen Compagnies findet sich auch Schweizerisches im Progamm. So zeigt die Genfer Cie Greffe ihre jüngste Arbeit als Uraufführung.
Steps
Do, 12.4.–Sa, 5.5. / Infos und Programm: www.steps.ch
Nederlands Dans Theater 2
Die holländische Tanzgruppe tritt auf ihrer Tournee in der Schweiz mit sehr jungen Tänzerinnen und Tänzern an. Sie stehen am Anfang ihrer Berufslaufbahn und tanzen fantastisch. Dies beweist die Tanzgruppe jeden Abend mit vier verschiedenen Stücken, darunter «Sh-Boom!».
Mi, 18.4., 19.30 Theater Basel
Do, 19.4., 19.30 Stadttheater Bern
So, 22.4., 17.00 Théâtre de Passage Neuchâtel
Mi, 25.4., 20.00 Theater 11 Zürich
So, 29.4., 17.00 Théâtre de Jorat Mézières VD
Mi, 2.5., 20.00 Theater Casino Zug